Immer mehr Frauen greifen regelmäßig zum Alkohol
„Das alles ertrage ich nur, wenn ich trinke“

von Dr. Martha Flaschka

Frauen trinken öfter und mehr als früher und müssen sich häufiger fragen: „Bin ich schon süchtig, warum und wann trinke ich und wie schaffe ich es aufzuhören?“ Kam noch vor 20 Jahren auf vier trinkende Männer eine Frau, so ist das Verhältnis mittlerweile 3:1. Dass immer mehr Frauen zur FlascheFrauen sind oft gezwungen, eine Rolle zu spielen greifen ist freilich ein Trend, der sich mittlerweile in nahezu allen Ländern Mitteleuropas bemerkbar macht.

„Meine Probleme interessieren ihn nicht. Ich weiß das er mir nicht zuhört. Genauso gut könnte ich zum Wandschrank reden. Aber jeder Mensch hat doch das Bedürfnis vom anderen gehört zu werden. Wenn ich mich so im Stich gelassen fühle, genehmige ich mir ein Glas Prosecco, vielleicht auch zwei oder drei. Einsam war ich schon als Kind, heute weiß ich, wie ich das Alleinsein bewältigen kann.“
Die Überlastung liegt auch in einem ständigen „Geben“, bei einem gleichzeitigen Mangel an Zuwendung, Wertschätzung und Anerkennung. „Eigentlich habe ich selten Lust auf Sex, doch einmal in der Woche bedrängt mich mein Mann derart, dass ich nicht Nein-Sagen kann. Schließlich ist er der Alleinverdiener in der Familie. Ich möchte ihn bei Laune halten, weil ich das Geld brauche und Streit hasse. Das Ekelgefühl an so einem Abend kann ich nur ertragen, wenn ich trinke. Inzwischen bin ich eine gute Schauspielerin geworden, nach zwei Gläsern Whisky schon zu Mittag, sehe ich ganz entspannt dem Samstagabend entgegen.“
Frauen sind auch Rollenkonflikten ausgesetzt, die kaum lösbar sind. Die Entscheidung zwischen Beruf- und Familienrolle, oder der Versuch beiden gerecht zu werden, ist immer verbunden mit Belastungen, Verzicht und Frustration, denen Männer in dieser Konsequenz nicht ausgesetzt sind.
„Ich gebe im Job immer mein Bestes. In der Baufirma herrscht eine rauer Ton, ich bin die einzige weibliche Mitarbeiterin im Büro unter Männern. Wenn etwas nicht passt, kann mein Chef laut werden, aber weil die Zahlungsmoral der Kunden gestiegen ist, seit ich die Buchhaltung übernommen habe, bemüht er sich auch, mich zu loben. Im Grund bin ich mit dem Arbeitsplatz sehr zufrieden, aber es ist schon vorgekommen, dass ich einen Auftrag verschlampt habe, dann schnauzt er mich an und ich mache mir ewig lange Vorwürfe und habe Angst, dass ich gekündigt werde. Lob und Komplimente über mein Aussehen, auch von den männlichen Kollegen, sind mir wichtig. In letzter Zeit bin ich unsicher geworden wenn sie ausbleiben. Ich fühle mich nicht attraktiv genug und beginne zu grübeln.“
Rollenbild hat sich gewandelt
So oder ähnlich berichten manche Frauen in der Therapie über ihre Probleme und wie alles begann. Das weibliche Selbstverständnis und Rollenbild hat sich erweitert und gewandelt und somit auch das Trinkverhalten. Gut ausgebildete, berufstätige Frauen waren die ersten, die mit ihrem neu errungenen Selbstbewusstsein in der Freizeit zum bisher männlich dominanten Genussmittel griffen.
Alkoholische Getränke sind unbegrenzt verfügbar, die Gesellschaft toleriert den Konsum mit einer Einschränkung - dem Jugendschutzgesetz, das oft genug ignoriert wird. Die Ursachen für den Umgang mit der Droge unterscheiden sich bei Mann und Frau grundlegend. Männer trinken häufig um ihr Gefühl von Macht zu verstärken. Machtmissbrauch, Gewalt und Sexexzesse kommen signifikant öfter vor, wenn sie alkoholisiert sind. Ihr Alkoholkonsum verläuft regelmäßiger.
Alkohol bei Frauen hat eher die Funktion das Gefühl der Ohnmacht erträglicher zu machen, Konflikte zu vermeiden, in einer Beziehung zu überleben, da die Hoffnung auf Besseres verlorenging. Die Bedürfnisse der anderen sind wichtiger als die eigenen. Das Trinkverhalten ist starken Schwankungen unterworfen – Phasen in denen kaum getrunken wird wechseln sich mit alkoholischen Exzessen ab.
Dr. Ludgera Vogt, eine Soziologin, hat in Deutschland wissenschaftliche Untersuchungen über alkoholabhängige Frauen gemacht, die sich für eine Aufnahme in einer Suchtklinik entschlossen haben und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass es überwiegend zwei große Gruppen gibt:

* Zur ersten Gruppe zählen die Frauen, die schon früh mit dem Trinken angefangen haben, aber die Sucht nicht durch Beziehungsprobleme ausgelöst wurde. Sie gaben an, dass alkoholische Getränke schon in der Pubertät zur Tagesordnung gehörten, weil sie sich damit in einer Clique zugehörig fühlten. Das Umfeld und der Lebensstil gefiel ihnen.
Trinken in Gesellschaft, in der Öffentlichkeit, was soll daran falsch sein? Doch bei näherem Hinterfragen wird deutlich, dass ihr Elternhaus ihnen kein stabiles Selbstwertgefühl vermitteln konnte. Die Bemühungen zu einem trinkenden Freundeskreis zu gehören, akzeptiert und geliebt zu werden, gingen sehr weit. Auch bei diesen Frauen ist die Angst vor Einsamkeit und Isolation stark ausgeprägt. Häufig wechselnde Partner, meist aus denselben Kreisen, Missbrauchserfahrungen und gewalttätige Übergriffe, später chaotische Lebensstile mit Arbeitsplatzverlust. Die Abwärtsspirale führt in eine Krise mit dem Partner, oft sind auch Kinder betroffen, die gesundheitlichen Probleme lassen sich nicht mehr ignorieren.

* Zur anderen Gruppe zählen jene Frauen, die später mit dem übermäßigen Trinken begonnen haben. Da sind es meist die Beziehungsprobleme, die den Ausschlag geben. Auch wenn die Partnerschaft wenig befriedigend ist, halten die Frauen aus den unterschiedlichsten Gründen durch, bis eine zusätzliche Belastung ihre Belastbarkeit aus der Balance bringt.
Es ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Die meisten Männer reagieren mit Abscheu und Ablehnung auf das veränderte Verhalten, verlieren die Selbstbeherrschung, schlagen zu oder flüchten aus demVerlassensängste Haus und der Beziehung. Die Frauen sind mit ihrer unterdrückten Wut und Unzufriedenheit allein. Der Schritt in die problematische Abhängigkeit ist getan, Alkohol ist der einzige Rettungsanker in einer Situation, in der sie keinen Ausweg sehen. Meist haben die Frauen einen hohen Anspruch und sehen ihre Lebensaufgabe darin eine gute Partnerin, Mutter und Mitarbeiterin zu sein. Um Konflikte zu vermeiden wurden eigene Bedürfnisse jahrelang hintangestellt. Viele litten schon vor dem Zusammenbruch unter psychosomatischen Beschwerden wie Magenbeschwerden, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen… Im Gegensatz zur ersten Gruppe leiden diese Frauen unter verstärkten Schuldkomplexen und einem Gefühl, versagt zu haben.

Ursachen und Hintergründe sind mannigfaltiger, doch eines haben alle gemeinsam: Eine Sozialisation die die Frauen lehrt, dass das Wohlbefinden ihrer Umgebung wichtiger sein muss, als die eigene Zufriedenheit. Ebenso ein Machtgefälle in Beziehungen das als Selbstverständlichkeit akzeptiert wird und für Probleme blind macht.
Verschiedene Faktoren
Das eigentliche Suchtverhalten kann als Symptom angesehen werden hinter dem die wirkliche Problematik steckt. Die Bearbeitung dieser tiefer liegenden Ursachen ist der Mittelpunkt der psychotherapeutischen Arbeit mit Abhängigen. Meist wirken verschiedene Faktoren zusammen, doch folgende Ursachen sind hauptverantwortlich für den Weg in die Sucht:

1.) Defizite in der Familienstruktur

2.) Vereinsamung, Arbeitsplatz- oder Partnerverlust, Gefühl der Leere

3.) Ängste, verbunden mit dem Gefühl von Hilflosigkeit

4.) Mangelnde Wertvorstellungen und Weltanschauung

5.) Mangel an Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl

6.) Leichtfertiger Umgang mit Alkohol, Nikotin und Medikamenten in der Ursprungsfamilie

7.) Schwache Konfliktbewältigung

8.) Materielle Verwöhnung und Höherbewertung von Konsum gegenüber ideellen Zielen

9.) Verführung zu ungehemmten Konsumverhalten

10.) Über- oder Unterforderung im kognitiven Bereich mit mangelnder Überschaubarkeit der eigenen Lebensbedingungen, Talenten und Entwicklungsmöglichkeiten

Das Verhalten, der Umgang mit der Sucht, der Versuch sich daraus zu befreien sind bei Frauen anders als bei Männern. Die Buben bekommen schon ab dem 6. Lebensjahr Medikamente, wenn sie in der Schule auffällig werden, die Mädchen erst in der Regel um das 12. Lebensjahr – in der Pubertätsphase.
Viele alkoholabhängige Frauen haben Gewalterfahrungen mit Männern sowohl innerhalb wie außerhalb der Ehe gemacht. Sie scheinen sich immer wieder destruktive Partnerbeziehungen zu „suchen.“ Ebenso sind Missbrauchserfahrungen in der Kindheit keine Seltenheit.
Die angepasste Frau hat schon als Kind gelernt ihre Situation schweigend zu ertragen und die Aggressionen gegen sich zu richten. Die Sucht gebraucht zu werden ist eine weitere nicht zu unterschätzende Falle, in die sie geraten.
Anti-Alkohol-Kampagnen haben sich bis vor einigen Jahren auf Männer konzentriert, ebenso die Forschung. Das hat sich mit dem „Europäischen Aktionsplan“ geändert der vorsieht, dass „alle Länder der EU eine zugängliche und wirksame Behandlung für die Personen und ihre Familien sicherstellt, deren Alkoholkonsum in des Bereich des gefährlichen und schädlichen Konsums fällt und bis zur Alkoholabhängigkeit reicht.“
Still und heimlich
Frauen, die riskant oder abhängig Alkohol missbrauchen, tun das in der Regel still und heimlich. Beim Arzt sprechen Sie meist über Depressionen und Partnerprobleme und lassen sich Medikamente verschreiben. Dies führt in vielen Fällen zur Mehrfachabhängigkeit. Wenn ein Mann versucht vom Alkohol loszukommen, wird seine Partnerin oft mitziehen und ihn unterstützen, umgekehrt passiert das seltener. Trinkende Frauen werden häufiger vom Partner verlassen, ein trinkender Mann kann eher auf die Hilfe seiner Frau hoffen. Die Alkoholkranke ist durch die Gesellschaft stigmatisiert, sie erlebt häufiger Gefühle der Angst, Schuld und Scham.

Erwiesenermaßen vertragen Frauen weniger Alkohol als Männer, denn

* In der Regel trinken sie weniger und sind nicht daran gewöhnt.

* Der Blutalkoholspiegel ist - außer von der Dosis - auch vom Körpergewicht abhängig. Auch bei gleichem Körpergewicht erreichen Frauen einen etwa 15 % höheren Spiegel, denn der weibliche Körper hat einen niedrigeren Wasseranteil, sodass sich die gleiche Menge Alkohol in weniger Körperflüssigkeit löst.

* Der Abbau des Alkohols geschieht zu 90 Prozent über die Leber und zwar durch Umwandlung eines Enzyms. Die männliche Leber enthält mehr Enzym, kann daher das Äthanol schneller abbauen.

* Pro Kilogramm Körpergewicht baut der weibliche Körper 0,085 g Alkohol ab, der männlich 0,1 g.

* Zyklusschwankungen können den Blutalkoholspiegel erhöhen. Durch die Einnahme hormoneller Verhütungsmittel verlangsamt sich die Abbaugeschwindigkeit noch.

* Frauen können schwerer einschätzen, wie eine bestimmte Alkoholmenge auf sie wirkt.

Zu dem kommt ein Umstand, der nur Frauen betrifft. Alkoholprobleme während der Schwangerschaft sind eine Gefahr für das Kind. Das Suchtgift gelangt über die Plazenta zum Embryo und das sich entwickelnde Ungeborene kann dadurch schwer geschädigt werden. Wie beim Erwachsenen ist dabei das Gehirn am stärksten betroffen, die im Aufbau befindlichen Zellen werden zerstört und eine Ausreifung gehemmt (siehe auch „Das Schützenfest ist ins Gesicht geschrieben…“).

Häufige Entwicklungsstörungen beim Neugeborenen sind:

- Gestörte Feinmotorik

- Ess-Störungen und Koordinationsstörungen

- Untergewicht

- Minderwuchs

- Beeinträchtigte Entwicklung der Organe

Später auch:

- Verminderte Leistungsfähigkeit

- Mangelhafte Konzentrationsfähigkeit

- Schlechte Gedächtnisleistung

Das Hilfsangebot für Suchtkranke ist vielfältig, wenn alle Versuche, es allein zu schaffen, gescheitert sind, ist die Bereitschaft, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, gewachsen: Entzug, Entgiftung, Entwöhnungsbehandlung, Selbsthilfegruppen. Viele haben davon schon gehört, aber genaue Vorstellung haben die wenigsten.
Die Abstinenzentscheidung bedeutet bei Frauen auch immer, dass sie die tradierte Frauenrolle in Frage stellenMein Kind will keinen Alkohol! und überprüfen müssen. Eine neues, passenderes Lebenskonzept soll gefunden werden. Neue, unbekannte Situationen, die Aufgabe von Gewohnheiten lösen Angst und Widerstand aus. Die Bereitschaft selbst zu denken, fühlen und handeln muss entwickelt werden. Da eine Therapie idealerweise mit einer relativ gesicherten existentiellen Grundlage erfolgreicher ist, sind auch die sozioökonomischen Abhängigkeit vom Partner, Eltern oder Sozialamt mit einzubeziehen. Als vorrangige Ziele in der Arbeit mit alkoholabhängigen Frauen gelten nach den Richtlinien der geschlechtsdifferenzierten Suchtarbeit in Deutschland Kriterien, die auch in Österreich anwendbar sind.
Geduld und Mut sind nötig
Mit dem Schritt in die Beratung steigen die Chancen für eine Suchtkranke zu lernen, ohne das Suchtmittel Alkohol zu leben. Die jahrelange Gewöhnung daran und die dadurch entstandenen Verhaltensmuster lassen sich nicht von heute auf morgen beseitigen. Geduld und Mut sind nötig, wenn es Rückfälle gibt. Viele brauchen für einen Ausstieg einen zweiten und dritten Anlauf. Die eigene Überzeugung für den Beginn und das Gelingen einer fortlaufenden Therapie ist die Voraussetzung, ein drängender Partner reicht nicht aus.
Die heutigen Arbeitsmethoden sind so angelegt, dass die anfangs instabile Motivationslage überwunden wird und jede weitere Stufe der Behandlung gelingen kann. Die Vorstellung Monate - ja Jahre - eine Psychotherapie zu brauchen, lässt manche vielleicht zögern. Aber das Programm zur Entwicklung von Autonomie und Selbstachtung, das Verstehen der eigenen Suchtgeschichte, die Verbesserung des Selbstwertgefühls und der Aufbau eines positiven Selbstbildes, sowie die Erweiterung der sozialen Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit ist so gestaltet, dass kein Thema ausgespart wird und zahlreiche Methoden und Maßnahmen zur Anwendung kommen.
Wenn die Selbstverurteilung endet kann mit der Auseinandersetzung der persönlichen Schwierigkeiten begonnen werden. Die bisher gelebte Geschichte kann nicht wieder ungeschehen gemacht werden, aber es ist möglich für die Gegenwart und die Zukunft neue Verhaltensweisen zu lernen. Es gilt sich - wieder – zu entdecken.

Dr. Martha Flaschka
Psychotherapeutin der Fachsektion Psychodrama, Soziometrie und Rollenspiel Psychologin
Diplom. Sozialarbeiterin
Sozial- und Lebensberatung

Grafiken: Thomas Frohnwieser (2) Logo: Mein Kind will keinen Alkohol! (1)