Das stumme Leiden der Familien
Mit dem Alkohol kommt der Psychoterror

von Werner Schneider

Es wird oft genug in den Medien berichtet: In Alkoholiker-Familien kommt es zu tätlichen Übergriffen. Meist misshandeln Männer ihre Frauen und Kinder. Gar nicht so selten prügeln Frauen auch auf ihre Männer los – doch diese verschweigen oft aus Scham die Attacken. Die Übergriffe ziehen sich durch alle Schichten der Gesellschaft. Wenn es zu Anzeigen kommt, reagiert die Polizei mit Wegweisungen des Täters, dem folgt eine Anzeige wegen Körperverletzung. Doch nicht immer ist körperliche Gewalt im Spiel. Trockene AlkoholikerInnen erzählen „Alk-Info“ ganz offen, wie sie ihre PartnerInnen und Kinder mit Psychoterror tyrannisiert haben. Manche Wunden sind nie verheilt. Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

WILHELM:
Ich habe zu trinken begonnen, damit ich meine Arbeitswut irgendwie in den Griff bekomme. Am Anfang hat das geklappt. Ein bis zwei Gläser nach Dienstschluss zum Abstressen. Dann wurden es mehr, ich habe tagsüber schon Alkohol gebraucht und habe die Flaschen in Aktenordnern versteckt. Ich wurde zum klassischen Spielgeltrinker, der schließlich pausenlos Alkohol brauchte. Natürlich auch zuhause. Auch dort habe ich anfangs die Flaschen versteckt. Meine Frau hat sie gefunden und mir auf den Kopf zugesagt, dass ich Alkoholiker bin. Ich habe alles abgestritten wie ein kleines Kind. Und dann habe ich eben auf dem Heimweg mehr getrunken als sonst und bin mit einem festen Rausch nach Hause gekommen. Auch wenn meine Gattin gar nicht in der Nähe war, habe ich bei der Tür schon gerufen: „Was schaust denn so blöd?“
Meine Kinder haben die Trinkerei natürlich auch mit bekommen und mich gebeten, dass ich aufhören soll. Ich habe hoch und heilig versprochen, dass ich nach Mariazell (österreichischer Marienwallfahrtsort, Anm.) wallfahrten gehe, wenn ich mit dem Trinken aufhöre kann. Am nächsten Tag habe ich meinen Spiegel gebraucht und mein Versprechen war vergessen – nicht aber bei den Kindern. Ich habe ihre Schulhefte aufgehoben. Man sieht an der Schrift deutlich, wann ich meine schlimmen Phasen gehabt habe. Ich habe nicht herumgeschrien, ich habe sie ignoriert.
Und dann musste ich in die Suchtklinik in Wien-Kalksburg. Nach vier Wochen schien alles bestens. Ich habe nur nicht geglaubt, dass ich nie wieder trinken werde. Kaum war ich wieder daheim, habe ich mir ein paar Gläser genehmigt. Meine Frau und meine Kinder waren geschockt. Ich habe so lange gesoffen und jegliches Familienleben abgelehnt, bis ich zum zweiten Mal in Kalksburg gelandet ist. Und ich bin danach zu den Anonymen Alkoholikern gegangen. Meine Tochter hat mir lange nicht geglaubt, dass ich nicht mehr trinke. Und sie hat recht gehabt: Nach sieben Jahren habe ich wieder einen Rückfall gebaut. Sie war erwachsen und hat resigniert gemeint: „Das hat kommen müssen.“ Heute verstehen wir uns wieder bestens. Ich trinke seit fast 30 Jahren nichts mehr.

SABINE:
Warum ich mit den Trinken angefangen habe, weiß ich gar nicht mehr so genau. Wahrscheinlich, weil ich meine Hemmungen loswerden wollte. Ein paar Gläser Sekt und ich war locker. Mein Mann und meine Tochter haben die lustige Mami am Anfang auch sehr geschätzt. Wir haben Gesellschaftsspiele gespielt und ich habe eine Flasche Sekt neben mir stehen gehabt. Mein Mann hat ein oder zwei Bier getrunken und dann war es genug. Ich habe meine Flasche ausgetrunken und wurde aggressiv, wenn ich verloren habe. Mein Kind hat das natürlich nicht mit dem Alkohol in Zusammenhang gebracht. Die Kleine hat nur geweint, wenn ich das Brett mitsamt den Steinen durch die Wohnung geschmissen habe.
Ich habe dann schon in der Früh mein Quantum gebraucht und meine Chefin hat mich auf meine Fahne angeredet. Ich habe etwas von einem Fest erzählt und bin dann auf Korn umgestiegen, Das war der rasante Abstieg. Ich bin fast nicht aus dem Bett gekommen, um meiner Tochter das Frühstück zu richten. Ich habe grundlos jeden Morgen mit ihr gestritten. Ihre schulischen Leistungen sind rapide abgefallen, weil ich mich einfach nicht mehr gekümmert habe. Ich war froh, dass ich meine Arbeit noch machen konnte, dann war ich fertig und habe eine halbe Flasche Korn auf einmal ausgetrunken.
Mein Mann hat längst eine Freundin gehabt. Wenn mein Kind etwas von mir gebraucht hat – ich war auch schon ewig pleite – habe ich nur gesagt: „Geh‘ zu deinem Papa, den hast eh viel lieber als mich.“ Ich weiß nicht wie weh ich meiner Tochter damit getan habe, sie hat mich abgöttisch geliebt, das hat sie mir später gestanden. Irgendwann hat sie wieder geweint, weil sie die Aufgabe alleine nicht geschafft hat. „Da habe ich ihre Schultasche genommen, auf den Gang geschmissen und geschrien: „Verschwind' endlich!“ Sie ist zu meinem Mann gegangen und der hat umgehend die Scheidung eingereicht.
Ich treffe meine Tochter noch, aber wir sind uns fremd. Ich habe drei Entzüge gebraucht, bis ich begriffen habe, dass ich nicht trinken kann sonder saufen muss. Mein jetziger Mann ist ebenfalls trockener Alkoholiker und wir geben uns gegenseitig Halt.

JÜRGEN:
Ich habe seit meiner frühesten Jugend an gesoffen. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, da war die einzige Unterhaltung das Dorfwirtshaus und dort hat keiner gefragt, wie alt du bist. Ich bin schon früh mit Schlägereien auf die schiefe Bahn geraten und war in Jugendhaft. Dann hat sich eine schöne Frau in mich verliebt. Ich habe meine Lehre beendet und in meinem Beruf mit vielen Nachtdiensten gut verdient. Das Geld habe ich zu den Automaten getragen oder versoffen.
Ich war auch rasend vor Eifersucht. Meine Frau durfte alleine nicht ausgehen und wenn wir gemeinsam unterwegs waren – und da hat sie auch schon ganz schön getrunken – und es hat sie ein anderer Mann auch nur angeschaut, habe ich gestänkert oder eine Schlägerei angefangen. Wie ich wieder einmal im Gefängnis war, sind die Scheidungspapiere von ihrem Anwalt gekommen. Ich habe geglaubt ich drehe durch. Wie ich wieder draußen war, hab‘ ich sie tyrannisiert. Und plötzlich war sie weg. Sie ist meinetwegen umgezogen in ein anderes Land. Ich habe eine Zeit lang herumgehurt und dann wieder eine Frau kennen gelernt, die ich rasend geliebt habe. Sie war Alkoholikerin wie ich.
Wieder habe ich sie mit meiner Eifersucht verfolgt. Ich war ein Kontrollfreak. Ich habe sie stundenlang beschimpft, wenn sie mit ihren Saufkumpanen unterwegs war. Dabei bin ich selber am Automaten gestanden und habe jeden Cent, den ich verdient habe, verspielt. Ich habe ihr Geld gestohlen. Da ist sie ausgezogen und hat mir klipp und klar gesagt, dass sie mich nie wieder sehen will. Ich bin durchgedreht. Ich habe meinen besten Freund verdächtigt, dass er mit ihr etwas hat und habe ihn mit dem Umbringen bedroht. Dann habe ich seiner Freundin eine SMS geschickt und Details hineingeschrieben, wie es die beiden angeblich treiben. Er hat die Beziehung fast nicht retten können. Heute bin ich trocken und kann noch immer nicht mit meiner Ex-Freundin darüber reden.

ILSE:
Ich habe drei wunderbare Söhne, die mir das Leben gerettet haben. Dabei habe ich sie wie ein Stück Dreck behandelt. Ich war so etwas wie eine Musterhausfrau. Mein Mann war Alkoholiker und hat mich verlassen wie der jüngste von den drei Buben sechs Jahre alt war. Ich habe ausgerechnet im Alkohol meinen Trost gesucht, obwohl ich gesehen habe, wie das bei meinem Mann geendet hat, er ist an Leberzirrhose mit 52 Jahren gestorben.
Am Anfang waren es ein paar Schluck Wein, dann schon ein Doppler (Zweiliterflasche, Anm.) und zuletzt bin ich beim Wodka gelandet. Der Haushalt ist immer mehr versaut und ich habe meinen Buben pausenlos nur angeschafft, was zu tun ist. Sie haben neben der Schule geputzt und sind einkaufen gegangen. Dann habe ich nicht einmal mehr die Waschmaschine einschalten können.
Besonders schlimm war, dass ich den Ältesten in der Nacht zur Tankstelle um eine Flasche Wodka geschickt habe. Man hat ihn dort schon gekannt und mich auch, darum hat er den Fusel gekriegt. Ich habe gesoffen und gekeift. Irgendwann habe ich gar nicht mehr mitgekriegt, dass die Buben nur noch für die Schule arbeiten – alle Drei haben immer gute Noten nach Hause gebracht – und sich nicht mehr um den Haushalt kümmerten. Es war verdreckt, es hat gestunken, weil ich mich angekotzt habe und mich nicht mehr duschen konnte.
Irgendwann bin ich bewusstlos geworden und meine Buben haben sofort den Notarzt gerufen. Ich hatte er eine schwere Bauchspeicheldrüsenentzündung und war am Draufgehen. Ich war acht Wochen im Spital und meine drei Prinzen haben sie in ein Heim gesteckt. Wie ich nüchtern nach Hause gekommen bin und meine Wohnung gesehen habe, hat mich fast der Schlag getroffen. Ich habe tagelang nur geputzt und darum gekämpft, dass ich meine Buben wiederkriege. Da hatte ich keine Chance. Der Älteste hat schon eine Lehre begonnen gehabt, der ist mich besuchen gekommen. Er hat nie Vorwürfe gemacht. Auch meine zwei „Kleinen“ durfte ich dann regelmäßig sehen. Sie waren so erstaunlich brav – obwohl ich ihnen keine Erziehung angedeihen habe lassen. Jetzt haben alle drei Familien und ich bin gerne gesehener Gast. Keiner von ihnen trinkt auch nur einen Schluck Alkohol, ich auch seit achtzehn Jahren nicht mehr.