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Nach langer Trockenheit kommt der Rückfall
Viele Gründe, um wieder mit dem Saufen zu beginnen

von Werner Schneider

Kaum ein Wort fällt in den diversen Selbsthilfegruppen für Alkoholiker so häufig wie der Begriff „Rückfall“. Ein Großteil der trockenen Alkoholiker hat schon zumindest einmal erlebt, dass der Griff zum Glas oder zur Flasche wieder in den Strudel nach unten führt. Manche können sich mit Hilfe der Erfahrung, die sie in trocknen Zeiten gemacht haben, wieder selbst aus dem Sumpf ziehen. Andere brauchen eine oder mehr Entwöhnungen. Die Gründe für Rückfälle sind vielfältig. Alk-Info zählt einige davon auf.

Das „ich konnte nicht ablehnen Glas“. In der Regel akzeptiert die Umwelt recht tolerant, wenn jemand von sich sagt: „Ich trinke keinen Alkohol mehr.“ Aber es gibt hartnäckige ZeitgenossInnen, die zum Mittrinken nötigen wollen. Verständigen Gastgebern sagt man schon im Vorhinein, „bitte haltet für mich etwas Alkoholfreies parat“. Aber es gibt Chefs/Chefinnen oder Familienangehörige, die mit dem Spruch kommen: „Wenn du/Sie jetzt nicht mit mir anstoßt/anstoßen, bin ich böse!“ Es klingt leicht dahin gesagt: Na bitte, dann soll er/sie eben böse sein.
Oft will man nur um des Friedens willen mit dem einen Glas anstoßen, nur einen Schluck nehmen – es ist der eine zu viel. Ein Glas hat nicht geschadet, dann kann es ja noch ein zweites sein. Oft hält man sich zwei bis drei Wochen tapfer an das „eine“ Glas. Dann werden es mehr, dann kommen wieder die regelmäßigen Gasthausbesuche mit den Runden, die man gemütlich mit trinkt… der Teufelskreis ist geschlossen. Es lohnt, sich für diese Gelegenheiten ein paar Sprüche parat zu halten, etwa „ich vertrage keinen Alkohol“ oder „ich muss Tabletten nehmen“. Jede Notlüge ist besser, als das eine Glas, das man nicht ablehnen „darf“.

Der „mir geht’s privat so schlecht“ Spruch. In den Selbsthilfegruppen lernt man: „Höre für dich auf mit dem Saufen, nicht für den Job, nicht für die Familie“, denn wenn es dir gut geht, geht es auch allen anderen Personen in deiner Umgebung gut. Trotzdem gibt es immer wieder Fälle, in denen private Rückschläge sich einstellen. Es gibt einen weisen Spruch: Ein/e AlkoholikerIn hat keinen Lebenspartner sondern eine Geisel. Es kann vorkommen, dass diese „Geisel“ genau dann ausbricht, wenn der/die AlkoholikerIn in die trockene Phase eintritt. Das ist gar nicht so selten. Plötzlich kommen andere Charakterzüge an den Tag.
Oft beweist der/die ehemals nasse AlkoholikerIn in trockenem Zustand mehr Widerspruchsgeist. Gründe für private Katastrophen gibt es genug. Genau dann sollte man sich ins Gedächtnis rufen: „Ich höre für MICH auf.“ Das Selbstmitleidglas ist schnell getrunken. Oft hört man auch den Spruch: „Wozu soll ich trocken bleiben, er/sie hat mich eh verlassen.“ Das heißt, es ist eine bewusste Abkehr vom trockenen Stadium. Solche Abstürze enden in der Regel besonders schlimm, weil die Einsicht fehlt. Hier hilft neben dem körperlichen Entzug nur der regelmäßige Besuch in Selbsthilfeeinrichtungen. Dort sitzen mehrere, die ihren Liebeskummer ersäuft haben und dann wieder in die Trockenheit und zu glücklichen Partnerschaften gefunden haben. Ähnlich verhält es sich, wenn die Kinder nicht einsehen wollen, dass Mama oder Papa tatsächlich trocken sind und weiter so tun, als ob sie es mit nassen Alkoholikern zu tun hätten – mit allen Schuldzuweisungen. Auch diesen familiären Tiefpunkt sollte man nicht ertränken. Hier hilft nur (trockene) Geduld.

Das „ich habe so viel Stress Bier“. Jede/r AlkoholikerIn darf sich glücklich schätzen, wenn der Arbeitsplatz erhalten bleibt oder wenn man eine neue Arbeitsstelle bekommt. Viele haben in sich hineingeschüttet, weil sie den Stress im Beruf nicht ertragen haben oder weil sie ihre Arbeitswut mit Alkohol in den Griff bekommen wollten. Beides ging schief. Nach dem Entzug geht man voller ängstlicher Erwartungen in den alten Job zurück oder beginnt einen neuen. Und alles ist anders. Niemand nimmt darauf Rücksicht, dass man aus dem geschützten Bereich der Entzugsklinik kommt. Es wird wieder voller Einsatz und volle Leistung gefordert. Man ist mit diesem Erfolgsdruck ja nicht alleine, Kolleginnen und Kollegen geht es ganz ähnlich. Und die gehen nach getaner Arbeit „chillen“ wie die ‚Entspannung so schön auf Neudeutsch heißt. Nur: Die trinken ein oder zwei Glas, der Alkoholiker braucht zehn.
Es ist nur ein kurzer Weg, bis der Spiegeltrinker wieder Flaschen in die Arbeit schmuggelt und bei jeder Gelegenheit auf einen Schluck verschwindet. Das kann eine Weile gut gehen, dann aber schleichen sich Fehler ein oder die Fahne fällt auf. Das Ende der Berufskarriere kann schneller eintreten als man glaubt. So hart es auch fällt, wenn man nicht sicher ist, dass man beim Chillen mit Mineral oder Fruchtsäften auskommt, sollte man es ganz bleiben lassen. Es ist nicht unkollegial, den Gang ins Wirtshaus abzulehnen.

Die „Flasche ging mit“ und „Glühwein ist eigentlich sehr gesund“. Nicht lachen, aber diese beiden Gründe (in verschiedenen Varianten) kommen bei Rückfall-Geständnisse immer wieder vor. Diese Beispiele handeln von scheinbar völlig sinnlosen Rückfällen. Man ist seit einiger Zeit trocken und geht im Supermarkt durch die Alkoholika-Abteilung. Plötzlich ist eine Flasche oder ein Sechserpack Bier im Einkaufswagen. Hier arbeitet das Unterbewusstsein stark mit. Man hat früher ja auch Alkohol gekauft. Aber mit schlechtem Gewissen. Fällt der Kassiererin auf, dass man schon zu dritten Mal hintereinander eine Flasche Wodka eingepackt hat? Jetzt ist dieses schlechte Gewissen weg. Man hat ja lange nichts eingekauft – und EINE Flasche, was soll’s? Zuhause steht das Gesöff ein paar Tage unberührt. Aber der Alkohol ist immer stärker. Irgendwann genehmigt man sich ein Glas. Irgendwann ist die Flasche leer. Hat ja auch wirklich lange gehalten. Man könnte ja wieder einmal – und der Dame an der Kasse fällt bestimmt nichts auf…
Auf dem Heimweg von der Arbeit geht es über den Christkindlmarkt. Plötzlich stinkt es nicht mehr nach Alkohol, plötzlich duften Punsch und Glühwein. Und: „Im Glühwein sind Mineralstoffe!“ Solcher oder ähnlicher Unsinn geht durch den Kopf. Man bleibt stehen und trinkt. Schmeckt fast alkoholfrei, so süß. Es wird ein „angenehmes Schwipserl“. Variante zwei: Man begleitet jemanden in den Weinkeller, der dort verkosten und einkaufen will. Man will nicht mit kosten. Aber dann ist da die Rede von dem Beerenaroma in der Nase, von Weichsel am Gaumen, vom langen Abgang. Und man sagt: „Lassen Sie mich einmal riechen.“
Dem Duft in der Nase folgt ein Probierschluck und alles ist wie früher. Außerdem ist Rotwein gesund, sagen sogar Ärzte, suggeriert eine innere Stimme. Und man probiert Glas um Glas mit. Oft wird auch gleich ein Karton gekauft. Ein AA-Mitglied hat die Geschichte mit dem Glühwein ins Anton-Proksch-Institut (bekannteste österreichische Entzugsklinik in Wien) gebracht. Ein anderer langjährig Trockener ist über die Stiege des Weinkellers wieder zum Säufer geworden.
Bleibt noch jener Anonyme Alkoholiker zu erwähnen, der seinen 5. trockenen Geburtstag gefeiert hat und kurz danach zu einem eher noblen Geschäftsempfang geladen war. Man bot nach dem Dinner, den er noch mit Mineralwasser absolviert hatte, Zigarren an. „Und wie von selbst orderte ich einen großen Cognac, denn Zigarre ohne Edelbrand geht gar nicht.“ Das Ritual machte den Mann nicht nur wieder zum Raucher, es folgten – weil der Cognac zu teuer wurde – billige Weinbrandsorten und zuletzt beim Bauern erworbener selbst gebrannter Schnaps. Der Rückfall dauerte doppelt so lange wie die trockene Zeit zuvor. Dann erinnerte er sich wieder an die Anonymen Alkoholiker und ist inzwischen wieder trocken.

Zum Thema:Weder Kavaliersdelikt, noch Katastrophe