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Die zwölf Schritte der AA (Schritte 1 - 6)
Wir kamen zu dem Glauben…, Teil 1

von Harald Frohnwieser

Vor etwas mehr als 80 Jahren lernten der Börsenmakler Bill Wilson und der Arzt Dr. Bob Smith einander in Akron im US-Bundesstaat Ohio kennen – und aus der Begegnung der beiden Alkoholiker entstand die weltweit größte Selbsthilfegruppe der Welt, die Anonymen Alkoholiker (AA). Vier Jahre danach, im Jahr 1939, fassten Bill, Bob und andere Mitglieder der Gruppen ihre bislang gesammelten Erfahrungen in dem Buch „Anonyme Alkoholiker“ zusammen. Darin enthalten waren auch die Zwölf Schritte, die weniger als Gebote denn als Empfehlungen gelten, wie man als Alkoholiker mit seinem Leben besser zurecht kommt und zu einer zufriedenen Nüchternheit gelangt. Mittlerweile haben viele Selbsthilfegruppen, die sich nicht mit dem Alkohol befassen, diese Schritte in ihrem Programm übernommen. Doch was steckt hinter diesen Empfehlungen, in denen das Wort Alkohol nur zwei Mal vorkommt, dafür aber viel von einer Höheren Macht die Rede ist?

Es war im Dezember 1934, als der Börsenmakler Bill Wilson zur Ausnüchterung wieder einmal im KrankenhausDr. Bob Smith landete. Dort sollte er, wie er später niederschrieb, ein spirituelles Erlebnis haben. Bill Wilson: „Plötzlich wurde der Raum durch grelles weißes Licht erhellt. Ich wurde von einer Ekstase ergriffen, die man nicht mit Worten beschreiben kann. Vor meinem geistigen Auge schien es mir, als sei ich auf einem Berg, und dort würde kein Luftzug, sondern ein Wind des Geistes wehen. Und dann erfasste mich ein unendliches Gefühl der Freiheit. Langsam wich die Ekstase. Ich lag zwar auf dem Bett, aber jetzt befand ich mich für eine gewisse Zeit in einer anderen Welt, in einer neuen Welt des Bewusstseins. Um mich herum und durch mich durch ging ein wunderbares Gefühl von Geist, und ich dachte bei mir: ,Also das ist der Gott der Propheten!‘ Ein Gefühl des Friedens durchdrang mich und ich dachte: ,Egal wie falsch die Dinge sein mögen, sie sind immer noch in Ordnung. Die Dinge sind mit Gott und Seiner Welt eins.‘“
Im Jahr darauf gründete Bill gemeinsam mit dem Arzt Dr. Bob die Anonymen Alkoholiker, vier Jahre später – die Gemeinschaft hatte sich mittlerweile stark vergrößert und es gab mehrere Gruppen – fassten die beiden Männer gemeinsam mit einigen anderen trockenen Alkoholikern in dem Buch „Anonyme Alkoholiker“ ihre Erfahrungen zusammen. Darin enthalten waren auch die Zwölf Schritte, die bis heute als wichtigeZwölf Schritte und Zwölf Traditionen / Verlag: Anonyme Alkoholiker Interessengemeinschaft Empfehlungen für ein Leben in Nüchternheit und Zufriedenheit gelten und von vielen anderen Selbsthilfegruppen übernommen wurden.
Der Religionspsychologe Prof. Dr. Sebastian Murken von der Universität Trier schrieb dazu in einem Aufsatz: „Obwohl in der Öffentlichkeit wenig bekannt, ist das Programm der Anonymen Alkoholiker, das seit fast 80 Jahren Genesung durch Spiritualität propagiert, ein Wegbereiter für die Erkenntnis geworden, dass die Überantwortung an eine Höhere Macht und die Spiritualisierung des eigenen Weltbildes und der eigenen Werte einen heilsamen Effekt auf Gesundheit und Beziehungen haben kann. Mit den 12 Schritten und ihren Schriften nahmen die AA vor Jahrzehnten vorweg, was heute zum allgemeinen Trend geworden ist: Die Wichtigkeit des Transzendenzbezuges zu betonen und gleichzeitig die inhaltliche Ausgestaltung dieser Transzendenz völlig offen zu lassen.“
Wie aber lauten diese zwölf Schritte und welche Bedeutung steht dahinter? In dem von der AA herausgegebenen Buch „Zwölf Schritte und Zwölf Traditionen“ werden Erläuterungen angeführt, die „Alk-Info“ hier gekürzt wiedergibt.

1. Schritt: „Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“

Erläuterungen:
„Als wir auf die Geschichten unseres eigenen Trinkens zurückblickten, konnten wir aufzeigen, dass unser Trinken schon Jahre bevor wir den Kontrollverlust hatten, kein Gewohnheitstrinken mehr war. Es war wirklich schon der Anfang zu einem verhängnisvollen Abstieg. Zu den Zweifelnden konnten wir (die Anonymen Alkoholiker, Anm.) sagen: „Es ist durchaus möglich, dass du kein Alkoholiker bist. Warum versuchst du nicht kontrolliert weiter zu trinken und dabei immer daran zu denken, was wir dir über Alkoholismus gesagt haben? Diese Einstellung hatte unmittelbar praktische Folgen. Es stellte sich heraus, dass ein Alkoholiker, der über die wahre Art der Krankheit Bescheid wusste, nicht mehr derselbe Mensch war wie vorher. Nach jedem Rausch musste er sich sagen: „Vielleicht hatten diese AA doch recht…“ Nach einigen bösen Erfahrungen, oft Jahre vor dem Auftreten äußerster Schwierigkeiten, kehrte er offensichtlich überzeugt zu uns zurück. Er hatte seinen Tiefpunkt genauso erreicht wie jeder andere von uns. Der Teufel Alkohol selbst hatte ihn so weit gebracht.“

2. Schritt: „Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.“

Erläuterungen:
„Die Anonymen Alkoholiker verlangen nicht, das du irgendetwas glaubst. Diese Zwölf Schritte sind nur Empfehlungen. Um nüchtern zu werden und nüchtern zu bleiben, brauchst du den Zweiten Schritt nicht auf einmal zu machen. Alles was du brauchst, ist Bereitschaft. Tritt einfach aus deinem Diskussionsklub aus und quäle dich nicht mit so tiefgehenden Fragen, ob zuerst die Henne da war oder das Ei. Ich sage es dir noch einmal: Alles, was du brauchst, ist Bereitschaft. (…) Der Zweite Schritt ist daher der Sammelpunkt für uns alle. Ob Agnostiker, Atheist oder jemand, der seinen Glauben verloren hat: Diesen Schritt können wir gemeinsam gehen. Wahre Demut und Bereitschaft können uns zum Glauben führen, und jedes AA-Meeting garantiert uns, dass Gott uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben wird, wenn wir uns in der richtigen Weise mit Ihm verbinden.“

3. Schritt: „Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir ihn verstanden - anzuvertrauen.“

Erläuterungen:
„Mit dem Dritten Schritt öffnen wir eine Tür, die noch verschlossen und verriegelt zu sein scheint. Alles, was wir dazu brauchen, ist ein Schlüssel und den Entschluss, die Tür zu öffnen. Es gibt nur einen Schlüssel: er heißt Bereitwilligkeit. Ist die Tür erst einmal so entriegelt, öffnet sie sich beinahe von selbst. (…) Wie die weiteren Schritte verlangt der Dritte bejahendes Handeln. Nur durch die Tat können wir den Eigensinn überwinden, der bisher verhinderte, dass Gott - oder wenn du willst, die Höhere Macht - Zutritt zu unserem Leben bekam. Glaube ist sicher notwendig, aber der Glaube allein kann nichts ausrichten. Wir können einen Glauben haben und doch Gott aus unserem Leben fernhalten. Die Schwierigkeit besteht jetzt darin, wie und auf welchem Wege wir Ihn in unser Leben eintreten lassen können. Der Dritte Schritt ist dazu der erste Versuch.“

4. Schritt: „Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.“

Erläuterungen:
„Im Vierten Schritt bemühen wir uns ernsthaft und gründlich herauszufinden, welche Belastungen jeder von uns hatte und noch hat. Wir wollen genau erkennen, wie, wann und wo unsere Naturtriebe uns fehlgeleitet haben. Wir wollen offen das Unglück betrachten, das uns und anderen dadurch geschehen ist. Wenn wir die Fehler in unserem Gefühlsleben entdecken, können wir sie korrigieren. Wenn wir uns darum nicht bereitwillig und dauerhaft bemühen, wird es kaum Nüchternheit oder Zufriedenheit für uns geben. Die meisten von uns haben erkannt, dass ohne eine furchtlose, gründliche Inventur in unserem Innern ein Glaube, der sich im täglichen Leben bewährt, noch in weiter Ferne liegt. (…) Wir glaubten, dass uns die „Umstände“ zum Trinken brachten, und als wir versuchten, diese Umstände zu ändern, und es uns nicht nach unserer Vorstellung gelang, verloren wir die Kontrolle über das Trinken und wurden Alkoholiker. Wir kamen nie auf den Gedanken, dass wir uns selbst ändern mussten, um mit den Umständen fertig zu werden, so wie sie waren.
Ganz gleich, welche Fehler wir haben, sie gewannen die Überhand und trieben uns schließlich in den Alkoholismus und in das Elend. Deswegen sollte Gründlichkeit das Schlüsselwort zu unserer Inventur sein. Es ist klug, Fragen und Antworten aufzuschreiben. Das hilft uns, klar zu denken und gewissenhaft zu urteilen. Jetzt haben wir den ersten greifbaren Beweis unserer völligen Bereitschaft, diesen Weg weiterzugehen.“

5. Schritt: „Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.“

Erläuterungen:
„Die Erfahrung der AA hat uns gelehrt, dass wir nicht allein leben können mit unseren drückenden Problemen und Charakterfehlern, die Schwierigkeiten hervorrufen oder bestehende verschlimmern. Wir haben mit Hilfe des Vierten Schrittes unseren Lebenslauf vorwärts und rückwärts durchleuchtet, und die Erfahrungen, die wir am liebsten vergessen möchten, traten besonders stark hervor. Falls wir jetzt erkannt haben, wie unser falsches Denken und Handeln uns selbst und anderen geschadet hat, wird es um so dringlicher, dass wir damit aufhören, allein mit den quälenden Gespenstern von gestern zu leben. Wir müssen mit jemandem darüber sprechen.
(…) Das Eingestehen der eigenen Fehler anderen gegenüber ist natürlich ein sehr alter Brauch. Er war jahrhundertelang wirksam und kennzeichnet das Leben aller wahrhaft gläubigen Menschen, die ein geistiges Fundament besitzen. Doch heutzutage ist es nicht mehr die Religion allein, die dieses heilsame Prinzip empfiehlt. Psychiater und Psychologen betonen, dass es für jeden Menschen dringend nötig ist, Einblick in seine persönlichen Fehlhaltungen zu erlangen, sie kennenzulernen und darüber mit verständnisvollen und vertrauenswürdigen Personen zu reden. Soweit es sich um Alkoholiker handelt, gehen die AA sogar noch weiter. Die meisten von uns sind davon überzeugt, dass wir ohne ein furchtloses Eingeständnis unserer Fehler einem anderen gegenüber nicht nüchtern bleiben können.
(…) Als wir in der Gemeinschaft der AA zum ersten Mal in unserem Leben unter Menschen waren, die uns zu verstehen schienen, hat uns das Gefühl des Dazugehörens tief beeindruckt. Wir glaubten, das Problem der Einsamkeit sei gelöst. Doch bald wurde uns klar, dass wir immer noch unter den früheren Qualen des Abseitsstehens litten, obwohl wir im gesellschaftlichen Sinne nicht mehr allein waren. Bevor wir nicht offen und ehrlich über unsere Konflikte gesprochen und aus dem Beispiel der anderen gelernt hatten, gehörten wir noch nicht dazu. Der Fünfte Schritt zeigte uns die Richtung. Er war der Anfang einer echten Beziehung zu den Menschen und zu Gott.“

6. Schritt: „Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.“

Erläuterungen:
„Dies ist der Schritt, der Erwachsene von Kindern unterscheidet“, erklärte ein geschätzter Geistlicher, einer der besten Freunde der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Er begründete das so: Jeder Mensch, der genug Bereitschaft und Ehrlichkeit aufbringen kann, um den Sechsten Schritt immer wieder und ohne irgendwelche Vorbehalte auf alle seine Fehler anzuwenden, ist in seiner geistigen Entwicklung ein gutes Stück vorwärts gekommen. Er hat Anspruch darauf, ein Erwachsener genannt zu werden, weil er ernsthaft versucht, zum Ebenbild seines Schöpfers heranzuwachsen. (…) Wenn wir Gott darum bitten, wird Er uns sicherlich unser Fehlverhalten vergeben. Aber auf keinen Fall wäscht Er uns weiß wie Schnee und belässt uns in diesem Zustand, wenn wir nicht mitarbeiten. Der gute Wille, für uns selber etwas zu tun, muss Voraussetzung sein. Gott erwartet von uns nur, dass wir versuchen, das Beste zu tun, um Fortschritte bei unserer Persönlichkeitsveränderung zu machen. (…) Nachdem der Zwang zum Trinken von uns genommen wurde, konnte es möglich sein, dass wir auf die gleiche Art von allen anderen Schwierigkeiten und Fehlern befreit wurden. Das ist ein Rätsel unseres Daseins, dessen vollständige Lösung allein bei Gott liegt.

Foto: Anonymen Alkoholiker (1)

Zum Thema:Wir kamen zu dem Glauben…, Teil 2