• Drucken

OA Dr. Manfred Maier, Landesnervenklinik Sigmund Freud in Graz, im Interview
Zur Sucht kommt oft die Depression – oder umgekehrt

von Werner Schneider

Alkoholiker, wenn sie sich zu ihrer Suchtkrankheit bekennen, sprechen sehr oft auch davon, dass sie depressiv seien oder gewesen seien. Manche stellen sich bei den Anonymen Alkoholiker mit Namen vor und fügen hinzu: „Ich bin AlkoholikerIn und mehrfachsüchtig.“ Oft bezieht sich das nicht nur auf Nikotinmissbrauch (das auch), bisweilen wird eingeräumt, dass man den Umgang mit Tranquilizern und Antidepressiva nicht in den Griff bekomme. Wie sind die Zusammenhänge zwischen Alkoholismus und Depressionen? Oberarzt Dr. Manfred Maier von der Landesnervenklinik Sigmund Freud (LSF) in Graz gibt umfangreich Auskunft.

Dr. Manfred Maier„Alk-Info“: Herr Dr. Maier, das Wochenmagazin profil berichtet in einer seiner vorigen Ausgaben von einem Anteil von 30 % Depressiven bei den Alkoholkranken. Ist diese Größenordnung realistisch?
Oberarzt Dr. Manfred Maier: Ich gehe davon aus, dass diese Zahl so stimmt, wenn auch die Angaben hier sehr schwanken. Vor allem müssten wir dabei einmal klären, wovon wir sprechen, wenn wir den Begriff der Depression verwenden. Dieser Begriff umfasst doch unterschiedliche Schweregrade bzw. Leidenszustände.
Auch ist der Zusammenhang zwischen der Alkoholkrankheit und einem depressiven Zustand nicht unbedingt statisch zu sehen. In einer Untersuchung von Davidson, 1995, hat sich gezeigt, dass am Beginn einer Entzugsbehandlung 62 % der Betroffenen die Kriterien einer klassischen Depression – Major Depression – erfüllt haben. Nach der Entgiftung haben in dieser Studie nur mehr 13 % die Kriterien dafür erfüllt.
Darüber hinaus stehen wir auch vor der Frage: Welche Erkrankung stand am Beginn? Ist der Alkoholmissbrauch Folge einer Depression oder umgekehrt die Depression Folge eines Alkoholmissbrauchs? Hieraus ergeben sich natürlich auch unterschiedliche Konsequenzen. Tatsächlich stehen wir in der Klinik bei der stationären Aufnahme oft vor der ganz praktischen Frage, ob jemand mit einer solchen Mischdiagnose primär auf einer suchtspezifischen Abteilung behandelt werden sollte oder ob er besser auf einer allgemeinpsychiatrischen Abteilung aufgehoben ist. Steht die Depression im Vordergrund, kann es sein, dass der Betroffene durch die Dynamik auf einer suchtspezifischen Abteilung überfordert ist, ist die Abhängigkeit im Vordergrund, kann es sein, dass die Suchtthematik des Einzelnen auf einer allgemeinpsychiatrischen Station zu kurz kommt.

Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Suchtverhalten – Alkoholismus im speziellen – und Depression?
Hier gibt es viele Ergebnisse von genetischen Forschungen und Zwillingsstudien, die doch einen deutlichen Zusammenhang zwischen Sucht und Depression gezeigt haben.
Auch gibt es neurobiologische Zusammenhänge, die vor allem den Serotonin- und den Dopaminstoffwechsel im Gehirn betreffen. Als psychoanalytisch denkender Mensch sehe ich aber natürlich auch entwicklungspsychologische Zusammenhänge. Sowohl die Sucht als auch die Depression haben aus psychoanalytischer Sicht Wurzeln in der oralen Phase. Es geht dabei darum, dass der Säugling im Rahmen einer stabilen und liebevollen Beziehung zu seiner Mutter und auch zu seinem Vater rund um das Gefüttert- und Gehalten-Werden so etwas wie ein Urvertrauen entwickeln kann. Ist dieses Urvertrauen gestört, neigt der eine unter Umständen zum depressiven Rückzug, während der andere immer wieder suchtartig die Verschmelzung mit dem verlorenen Objekt sucht.
Ähnlichkeiten gibt es zwischen den beiden Erkrankungen auch in der Beziehungsgestaltung, speziell in den Paarbeziehungen der Betroffenen. Typisch sind asymmetrische Beziehungen. Die Partner werden oft in gewisser Weise zu Elternfiguren: bei Depressiven zu pflegenden, beschützenden, versorgenden Elternfiguren, bei Suchtkranken zu kontrollierenden, schimpfenden, verzeihenden Eltern. Angst und Verzweiflung sind immer im Spiel, außerdem ein ständiger Wechsel zwischen Hoffnung und Enttäuschung.

Ist es sinnvoll, nicht trockene Alkoholiker gegen Depressionen oder andere psychische Erkrankungen zu behandeln? Sollte da nicht der Entzug im Vordergrund stehen?
Natürlich ist eine Entzugsbehandlung eine wünschenswerte Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung einer zusätzlich bestehenden psychischen Erkrankung. Aber immer wird es nicht möglich sein, Betroffene dazu zu motivieren. Daher stellt sich primär oft die Frage, ob die Depression als Folge des Alkoholkonsums anzusehen ist oder ob der Alkoholkonsum einen Selbstheilungsversuch im Rahmen einer Depression darstellt. Der Alkoholkonsum kann ja ein Lösungsversuch für unterschiedlichste Konflikte sein.
Wenn ein depressiv-ängstlicher Patient Alkohol deshalb missbraucht, um seine Ängste irgendwie auszuhalten, so macht ein Behandlungsversuch mit Psychopharmaka schon einen Sinn. Wenn noch keine Abhängigkeit vom Alkohol besteht, dann muss der Betroffene diesen auch nicht mehr gegen seine Angst einsetzen.

Besteht bei Suchtkranken eine Disposition zu Medikamentenmissbrauch?
Tatsächlich konnte in unterschiedlichen Untersuchungen eine genetische Disposition zu Suchtverhalten nachgewiesen werden. Wie aber bei anderen psychiatrischen Erkrankungen ist die erbliche Belastung ein Mosaikstein bei der Entstehung einer Suchterkrankung. Wie schon erwähnt spielen aber jedenfalls auch lebensgeschichtliche Entwicklungen und Belastungen mit eine Rolle. Daneben ist noch ein wesentlicher Faktor zu erwähnen. Im Rahmen unserer Reifung werden wir vor die Aufgabe gestellt zu lernen, uns selbst zu beruhigen, unsere Spannungen und Ängste auf eine Art und Weise auszugleichen, die uns und unsere Mitmenschen nicht schädigt. Wir lernen zu streiten, zu verhandeln, uns dann wieder zu versöhnen. Wir lernen, uns bei Anspannung und Ärger abzulenken, Sport zu betreiben oder uns mit einem guten Freund auszusprechen. Diese Lösungsansätze stehen aber manchen nicht zur Verfügung. Hier ist dann ein Rausch oft eine willkommene Möglichkeit, Spannungen und Ängste abzubauen.

Liegt die Zahl der Suizide bei suchtkranken Patienten mit Depressionen höher als im Durchschnitt?
Die Kombination von Alkoholabhängigkeit und Depressivität erhöht eindeutig das Suizidrisiko. Überhaupt spielt Alkohol bei Suizidversuchen eine große Rolle. Sehr viele Patienten, die nach Suizidversuchen zu uns in die Klinik kommen, haben im Rahmen des Suizidversuchs auch Alkohol konsumiert (siehe auch „Ich bin dann mal weg – und zwar für immer!“).

Welche Aufgaben kann der/die AllgemeinmedizinerIn in Sachen Früherkennung und Information des/der PatientIn übernehmen?
Den Hausärzten kommt hierbei wohl eine ganz wichtige Funktion zu. Sie haben ja Kontakt zu sehr vielen PatientInnen, die wegen unterschiedlichster Anliegen zu ihnen kommen – nicht nur wegen einer depressiven Symptomatik oder wegen des Suchtproblems. Gleichwohl ist es doch ungleich schwieriger, einen Patienten auf ein Suchtproblem anzusprechen als auf eine Depression. Die Diagnose Depression ist heutzutage – auch durch Medienberichte – in gewisser Weise akzeptierter als früher. Noch mehr akzeptiert ist natürlich die Diagnose Burnout, da hierbei auch der Leistungsaspekt angesprochen wird. Dagegen geht die Sucht häufig damit einher, dass die Betroffenen ihre Abhängigkeit leugnen und herunterspielen. Das Verleugnen ist einer der zentralen Abwehrmechanismen. Hier braucht es Fingerspitzengefühl und oft viel Geduld, um den Patienten dazu zu bringen, sich als Betroffenen anzuerkennen. Nicht umsonst setzen die Anonymen Alkoholiker bei ihren Treffen diese Anerkennung des eigenen Krankseins bei ihren Treffen an die erste Stelle: „Ich bin Alkoholiker!“

Werden von AllgemeinmedizinerInnen nicht manchmal zu leichtfertig Psychopharmaka verschrieben, statt die Patienten direkt auf ihr Suchtverhalten anzusprechen, etwa weil eine zu große Nähe zwischen Arzt und Patient herrscht?
Ob die Schwierigkeit hier in einer zu großen Nähe zwischen Arzt und Patient liegt, kann ich nicht sagen. Auch kann man nicht generell davon ausgehen, dass Psychopharmaka allgemein zu leichtfertig verschrieben werden. Wir wissen ja, dass oft Jahre vergehen, bis eine Depression als solche erkannt und dann adäquat medikamentös und psychotherapeutisch behandelt wird. Sie beziehen sich in ihrer Frage offensichtlich auf die häufig suchterzeugenden Psychopharmaka wie die Tranquilizer und bestimmte Schlafmittel. Antidepressiva, Antipsychotika und die sogenannten Mood-Stabilizer haben dagegen kein wie immer geartetes Suchtpotential. Bei diesen Medikamenten wäre ein Zuwarten mit der Behandlung fatal und kontraproduktiv. Bei den potentiell suchterzeugenden Psychopharmaka haben wir es mit zwei Aspekten zu tun. Einerseits sind diese Medikamente in der Akuttherapie von schweren psychischen Krisen ein unverzichtbarer Bestandteil und die vielen verschiedenen Präparate sind sehr hilfreich. Unter diesen Umständen ist auch keine Suchtgefahr gegeben.

Auf was soll man beim Verschreiben von Medikamenten achten?
Schwierig wird es, wenn die Verordnung dieser Medikamente über die unmittelbare Krisensituation hinaus geschieht. Dies sollte klarerweise möglichst vermieden werden.
Ist aber einmal eine Abhängigkeit gegeben, so ist der Arzt mit Sicherheit gefordert, das Ziel der Abstinenz nicht aus den Augen zu verlieren, um tatsächlich nicht zum „leichtfertigen Verschreiber“ zu werden – sei es aus Zeitgründen im Rahmen einer überfüllten Praxis oder aus resignativen Gegenübertragungsgefühlen heraus.
Gleichwohl sehen wir in der Klinik aber auch diese Fälle, bei denen ein zu rasches Absetzen der Medikamente bei jahrelanger Tranquilizer-Abhängigkeit zu lang anhaltenden und kaum beherrschbaren psychischen Krisen führen kann.
Um zu ihrer Frage zurückzukommen. Umso mehr ich über das Suchtverhalten eines Patienten Bescheid weiß, umso eher kann und werde ich dies in meiner Verschreibungspraxis mit berücksichtigen. Voraussetzung dafür ist natürlich eine genaue Anamneseerhebung, die aber auch ihre Zeit braucht. Wenn ich aber weiß, dass mein Patient schon ein Suchtproblem hat oder hatte, so werde ich bei der neuerlichen Verordnung von z.B. Tranquilizern – wenn überhaupt - mich wirklich nur auf akute Notfälle beschränken.

Oberarzt Dr. Manfred Maier, ist Psychiater und Psychotherapeut. Er ist seit über zwei Jahrzehnten an der Nervenklinik Sigmund Freud in Graz tätig.

Foto: Werner Schneider (1)