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Ein Tabuthema im Blickpunkt (Teil 1)
Alkohol und Sexualität

von Burkhard Thom

Dieses Thema wird meist im Verborgenen gelebt. Denn Sexualität ist eine recht private Angelegenheit. Aber sollte sie dann noch tabu sein, wenn Alkohol im Spiel ist, viel Alkohol oder gar Abhängigkeit – und gar nicht so selten zu psychischen und körperlichen Schäden führt? Wie sich Alkohol auf die Sexualität auswirkt, welche gesundheitlichen und psychischen Schäden darin verborgen sind, lesen Sie im „Alk-Info“-Dreiteiler von Sachbuchautor Burkhard Thom.

Die Begriffe Alkohol und Sexualität sind eng miteinander verbunden – und genau wie bei Wahlen, Glauben oder Verdienst wird nirgendwo in unserem Leben so viel gelogen wie bei dieser Thematik. Wir sind bereit, uns zur politischen Landschaft zu äußern, haben eine Meinung zur Flüchtlingspolitik, zur Kindererziehung und zum Fahrstil anderer Verkehrsteilnehmer, aber das Thema Sexualität wird vermieden, es ist bei uns Menschen häufig angstbesetzt. Männer haben Versagensängste, bei Frauen stehen Penetrationsängste (Urangst vor potentiellen Schmerzen, Gewalt) im Vordergrund. Beide haben meist ein nicht erfüllbares Idealbild. Mit Alkohol lassen sich diese Grenzen leichter überwinden.
Dieser Dreiteiler entstand vorab aus einem Kapitel des Buches „Alkohol – Ein Hilfeschrei, Ratgeber und mehr“Zu Beginn sind es meist die akzeptierten zwei „Gläschen“, um lockerer zu werden, zu diesem Zeitpunkt gilt dies oft für beide. Man stellt für eine schöne Liebesnacht alkoholische Getränke bereit, leitet den Abend mit dem berühmten „Gläschen Champagner“ ein. Und ja, bei beiden Partnern tritt eine besondere Art der Enthemmung ein, man wird „lockerer“, traut sich mehr zu und wird sexuell angeregt.
Am Anfang steigert Alkohol die Lust
Alkohol hat einen enthemmenden Effekt und steigert dadurch die Lust. In einer Veröffentlichung des Magazins „Sexualmedizin“ steht: Kleine Mengen an Alkohol lassen den Testosteronspiegel bei Frauen ansteigen, dies führt zu einer Verstärkung des Lustgefühls.
Erst spät, meist viel zu spät haben wir begriffen, welche Folgen der Alkoholkonsum des Partners wirklich hatte. Die Männer haben ja keine Probleme, wenn sie Alkohol zu sich nehmen, dann werden sie zu Hengsten. Die Penislänge steigt (zumindest in der Fantasie) mit jedem Glas Bier um Zentimeter. Wie sagte aber eine Betroffene: Betrunkene Männer haben keine Probleme mit Sex – ganz sicher nicht, denn sie haben keinen Geschlechtsverkehr. Dabei ist das Spektrum der Erfahrungen unter Alkoholeinfluss sehr breit gefächert.
Sexualhormone kommen aus dem Gleichgewicht
Alkohol ist bekanntlich ein Nervengift und greift auch das Gehirn an. Der Stoffwechsel verändert sich, es kommt zu Leberschäden, außerdem kommt das Zusammenspiel der Sexualhormone aus dem Gleichgewicht. Es beginnt die Angst vor sexuellem Versagen. Bei alkoholabhängigen (aber auch von anderen Suchtmitteln abhängigen) Frauen verändern sich die sexuellen Wünsche und sie fühlen sich von ihrem Partner häufig belästigt (er will immer, gibt keine Ruhe und denkt nur an Sex). Einige entwickeln einen regelrechten Ekel und Widerwillen gegen Sexualität.
Männer haben Angst vor Versagen und Zurückweisung
Wie gesagt, bei Männern entsteht die Angst vor dem körperlichen Versagen oder die Angst vor der Zurückweisung durch die Partnerin. Die Folgen: Sexualität nimmt ab. Die traditionellen Ausreden sind Müdigkeit, körperliche Erschöpfung, Kopfschmerzen, Sorgen um Kinder oder andere Angehörige oder beruflicher Stress. In vielen Fällen reicht aber auch schon die „allabendliche Fahne“ als Mittel, eine Annäherung zu verhindern.
Beim Abhängigen – und hier spielt es keine Rolle ob Männlein oder Weiblein – gewinnen immer mehr das Verlangen nach Alkohol, die Beschaffung von neuem Stoff, das Verstecken und die Entsorgung des Leergutes eine wesentlich wichtigere Rolle als der Gedanke an eine gesunde und befriedigende Sexualität.
Hohe Dunkelziffer sexueller Vergehen unter Alkoholeinfluss
Die einzelnen Phasen und Wirkungsweisen im Zusammenspiel von Alkohol und Sexualität sind äußerst unterschiedlich, aber das Verhalten von betroffenen (trinkenden) Männern ist fast identisch. Zu Beginn der Trinkerkarriere steht das Liebesspiel mit zärtlichem Vorspiel, es folgen akrobatische Pflichtübungen und am Ende steht das völlige Desinteresse. Wenn es durch die Zunahme der Alkoholmengen zu Erektionsstörungen kommt, wird die Partnerin für die eigene Unfähigkeit verantwortlich gemacht und in vielen Fällen kommt es auch zu Gewalttätigkeiten. Zu Beginn übernimmt die Partnerin „automatisch“ die Verantwortung, es ist der Wunsch, die Ehe, die Beziehung und die Liebe zu retten. Das typische Verhalten: Vielleicht liegt es ja an mir, vielleicht bin ich nicht mehr attraktiv genug, vielleicht gebe ich mir nicht genug Mühe. Die Dunkelziffer der sexuellen Vergehen unter Alkoholeinfluss ist groß. Zu groß ist die Scham, Anzeige zu erstatten. Behörden werden meist erst eingeschaltet, wenn sich diese Männer Prostituierten zuwenden und sich dort (auch handgreiflich) austoben.
Um wirklich zu verstehen, wie sich Alkohol auf unser Sexualleben auswirkt, einige grundsätzliche Fakten (Quellen u.a. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)/Dr. Andreas Dieckmann, Prof. Michael Musalek):

1.) „Positive“ Effekte erlebt der gesunde Mensch, ohne sexuelle Energie einzubüßen, bei bis 0,5 Gramm Alkohol pro Kilogramm Körpergewicht. Das bedeutet bei 75 Kilogramm Gewicht: ca. zwei Viertel Weißwein. Bei niedriger Dosierung wirkt Alkohol enthemmend, angstlösend, schmerzlindernd und eventuell Sensibilität dämpfend und euphorisierend. (Achtung: Dies ist keine Aufforderung, Alkohol zu trinken, um sexuell aktiver zu werden!) Bei einer größeren Alkoholmenge wird der Gang wackelig, die Aussprache undeutlich, das Verhalten kann aggressiver und rücksichtsloser werden. Um einen Orgasmus zu erreichen, brauchen beide Partner eine höhere Stimulation, häufig setzt Müdigkeit ein und der Akt wird vorzeitig beendet. Überhaupt wird die Differenz zwischen Wollen und Können erheblich von der Menge des Konsums beeinflusst. Sicherlich keine Neuentdeckung, sondern ein bekannter Fakt. Neben der verminderten Orgasmusfähigkeit kann – und in den meisten Fällen wird auch – die Erektionsfähigkeit leiden. Der Geist ist zwar willig, aber der Körper macht nicht mehr mit. Bei längerem und höherem Konsum sinkt das Verlangen nach Sex und die Leistungsfähigkeit wird dauerhaft reduziert.

2.) Warum kommt es unter anderem zu sexuellen Problemen? Alkohol ist ein Nervengift. Ständiger Alkoholgenuss kann zu Persönlichkeitsveränderungen, Gehirn- und Nervenveränderungen, Leberschäden und zu Erkrankungen des Herzens führen. Und im Zusammenspiel mit den Hormonen gerät die Sexualität aus dem Gleichgewicht.
Bei höherer Dosierung kommt es zu einer schmerzdämpfenden Wirkung, man spürt weniger, die Enthemmung nimmt zu, die angstlösende Wirkung bleibt aber bestehen. Durch die Zunahme des Konsums verändert sich die Stimmung oft von euphorisierend in depressiv. Wer langfristig mehr als zwei Glas Bier täglich trinkt, läuft Gefahr, schließlich impotent zu werden. Auf die Tatsache, dass ein Risiko zur Abhängigkeit besteht, muss nicht näher eingegangen werden.

3.) Welche Schädigungen im Bereich der Sexualität können durch Alkoholkonsum entstehen?
Alkohol schädigt die Nerven, durch die Schädigungen in Rückenmark und Gehirn werden Reize und Signale nicht mehr an die Penisnerven weitergeleitet. Zudem schädigt Alkohol die Leber und vor allem auch den Hormonhaushalt. Bei Alkoholikern steigt die Produktion des Sexualhormons Östrogen, gefolgt von einem Mangel an männlichem Testosteron. Letzteres Hormon ist für die Libido, die sexuelle Begierde des Mannes, verantwortlich, sorgt also für die Empfindlichkeit der Schwellkörper und ist verantwortlich für die Erektion. Der gesunkene Testosteronspiegel senkt die Lust und erschwert die Erektion.
Weiterhin wird durch den Alkoholkonsum das weibliche Hormon Prolaktin gebildet, bei Frauen verantwortlich für die Milchbildung, beim Mann unterdrückt es die zentralen Penisreflexe.
Es gibt aber noch einen weiteren, sehr wichtigen Punkt. Alkohol kann sich zu einer psychischen Erkrankung entwickeln. Dauerhafter Alkoholkonsum führt oft in eine Depression. Die mitunter daraus entstehenden Beziehungsprobleme führen nicht selten zu einer verminderten Libido als psychischem Auslöser für das Versagen.

4.) Experten beurteilen das Zusammenspiel zwischen Alkohol und Sexualität oft noch komplexer. Laut der Psychiaterin Dr. Madelaine Costellanos ist das Gehirn das größte Geschlechtsorgan des Menschen. Sie sagt, dass Substanzen, die den Verstand beeinträchtigen (Alkohol enthemmt ja zum Beispiel), eine erhebliche Wirkung auf die Sexualität haben. In keinem Fall aber ist Alkohol ein Stimulierungsmittel, kein Aphrodisiakum: Alkohol verstärkt Reize, die im Gehirn ohnehin vorhanden sind. Aus gut wird besser, aus schlecht kann viel schlechter werden.

5.) Häufig wird angeführt, dass ein „Gläschen Wein“ zu einer besonderen körperlichen Erregung führen könne. Die enthaltenen Antioxidantien können die Durchblutung der Genitalien fördern, also im Klartext: in kleinen Dosen „geil“ machen. Blutgefäße werden erweitert, die Durchblutung von Penis, Klitoris, Schamlippen und Vagina wird angeregt, schwillt an und wird feuchter. Problematisch ist es, diesen Zustand längerfristig aufrecht zu erhalten oder zum Orgasmus zu kommen. Allerdings verlängert Alkohol auch den Transport der Empfindungen. Es wird schwerer, die Berührung der Genitalien mit der zu erwartenden Erregung im Gehirn zu verbinden. Das Gehirn ist nicht mehr so empfänglich für die Aktivitäten, die sich im Lendenbereich abspielen. Das zentrale Nervensystem ist betäubt, sexuelle Reize werden weniger wahrgenommen.

6.) Ein weiteres Phänomen ist der sogenannte „Bierpenis“. Die Urologin Dr. Jennifer Bärmann beschreibt das Phänomen wie folgt: Nach dem Trinken kommt es zu massiven Erektionsstörungen, weil der Penis gegenüber Reizen weitestgehend unempfänglich ist. Es kann sein, dass der Penis nicht ganz erschlafft, sondern einfach weniger hart ist. Geschlechtsverkehr geht noch, zum Orgasmus kommt es selten. Bei Frauen entsteht ein anderes Problem, denn Schnaps wirkt dehydrierend und kann Frauen trocken machen, laut der Urologin häufig nahe oder in der Menopause, ein Problem, das häufig auftritt. Grundsätzlich muss gesagt werden, dass sich Frauen nach Alkoholgenuss häufig noch gut fühlen, aber den Höhepunkt schwieriger erreichen.

7.) Abschließend noch zum Thema körperliche Gewalt, hemmungsloser Sex und eventuelle Verletzungen. In den letzten Jahren hat unkontrollierter, harter und oft gewalttätiger Sex zugenommen. Im angetrunkenen Zustand werden Verletzungen (von beiden Partnern) häufig nicht bemerkt, man wundert sich über blaue Flecke oder Prellungen, Risse, weil es an Gleitmitteln gefehlt hat, Bisse, weil man sich hat gehen lassen. Und das Risiko ist groß, nicht mehr einschätzen zu können, ob es sich um sicheren und vor allem einvernehmlichen Geschlechtsakt handelt. Die Tatsache, dass ein gerissenes oder verrutschtes Kondom zu ungewollter Schwangerschaft führen kann, sei nur am Rande erwähnt.

8.) Grundsätzlich: Wenn man sich dank Alkohols beim Sex besser fühlt, dann sollte die Beziehung überdacht werden. Den Geschlechtsverkehr schön zu trinken ist genauso uneffektiv, wie den Partner schön zu trinken. Es gibt sicher andere Wege, um einer Partnerschaft „Leben einzuhauchen“.

Unbehagen, Unwohlsein oder Abneigung mit Alkohol zu bekämpfen, zu dämpfen oder zu überwinden ist die schlechteste Lösung. Wie im täglichen Leben: Wenn man anfängt, Alkohol als Regulativ einzusetzen, dann läuft etwas grundsätzlich verkehrt. Unabhängig vom Suchtpotential durch Alkohol gibt es unzählige Nebenwirkungen, die das Sexualleben langfristig beeinflussen – und zwar chronisch:
Alkohol erhöht den Blutzucker, dieser wiederum ist verantwortlich für die Verstopfung der Arterien. Zur guten Funktion der Geschlechtsteile gehört aber eine gute Durchblutung. Wenn die Arterien verstopft sind, reduziert sich nicht nur der Blutzufluss zum Herzen, sondern auch Penis und Vaginalgewebe sind schlechter durchblutet.
Jeder hat mit dem Trinken die unterschiedlichsten Erfahrungen gemacht. Beim Geschlechtsverkehr sollte man ähnlich reagieren. Es muss Klarheit bestehen, dass eine Mixtur aus Alkohol und Sex keine Vorteile bietet.
Hemmungen sind ein Schutzfaktor
Der Geschlechtsakt ist ein Thema mit sehr hoher Sensibilität, Alkohol sollte nicht als das Mittel zum Abbau von Schwierigkeiten dienen. Hemmungen sind Gefühle, gegen die wir uns nicht wehren sollten, sie sind ein Schutzfaktor.
Inzwischen sind die Themen „Alkoholismus“ und „Mitbetroffenheit (Co-Abhängigkeit)“ als Diskussionspunkte in unserer Gesellschaft angekommen, „man spricht darüber“, es gibt zahlreiche Hilfen für die Betroffenen und viele Informationsmöglichkeiten.
Anders sieht es aus bei der Kombination Alkohol und Sexualität.
Woran liegt das? Haben wir Angst vor Verletzungen unseres Egos? Geht dieses Thema zu tief in unsere Intimsphäre oder liegt das einfach nur an unserer Erziehung?

Lassen Sie uns weiter darüber reden – lesen Sie im nächsten Teil dazu auch Schilderungen von Betroffenen.

Burkhard Thom, seit 25 Jahren trocken, ist Autor mehrerer Ratgeber zum Thema Alkoholsucht. U.a.: „Alkohol: Ein Hilfeschrei“ und „Alkohol: Die Gefahr lauert überall“. Seine Erfahrungen gibt er auch in Lesungen und Gesprächen in Kliniken, Suchtorganisationen, Selbsthilfegruppen und in Funk und TV weiter. Ganz neu sein Ratgeber mit Aktualisierung wichtigen Ergänzungen „Alkohol – Ein Hilfeschrei, Ratgeber und mehr“ - dieser Dreiteiler ist aus einen Kapitel dieses Buches.