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Die Kinder von Alkoholikern
Normal ist nur der Dauerrausch von Mama oder Papa

von Werner Schneider

Ein Grazer Psychiater der Landesnervenklinik Sigmund Freud sagte: „Der Großteil jener Patienten, die zu uns kommen und aus aus Familien mit einem alkoholkranken Elternteil stammen, haben Aggression und Gewalt erlebt.“ Diese Form der physischen Misshandlung ist nur ein Teil jener Passion, die solche KinderDauerrausch im Elternhaus durchlaufen. Der bekannte Psychologe und Suchtforscher Prof. Dr. Michael Klein aus Köln hat in eine umfangreichen Studie vorgelegt, wie Alkoholismus in der Familie junge Menschen für ein Leben lang prägt.

Schon in der Antike war bekannt, dass sich Alkoholismus über Generationen fortpflanzt: „Trinker erzeugen Trinker“, soll Plutarch (griechischer Schriftsteller und Philosoph) gesagt haben. Und im 19. Jahrhundert formulierte es der Berliner Sanitäts-Rath (sic!) und Oberarzt am Strafgefängnis Plötzensee, A. Baer, 1878 so: „In dem durch die Trunksucht der Eltern oder des Vaters geschädigten Familienleben ist die Erziehung der Kinder einer verderblichen Verwahrlosung anheimgegeben.“
In Deutschland, so eine Erhebung, dürften mindestens zwei Millionen Kinder durch die Abhängigkeit betroffen sein. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich höher. Klein lässt die Generalisierung von Plutarch und Baer nicht ganz unwidersprochen, muss teilweise aber zustimmen: „Obwohl wir heute wissen, dass nicht alle Kinder aus alkoholbelasteten Familien schwerwiegende Verhaltensprobleme entwickeln müssen, trifft die Beobachtung des Berliner Arztes immer noch für Millionen Kinder weltweit zu. Viele entwickeln selbst schwere Verhaltensprobleme, werden suchtkrank oder leiden an anderen psychischen Störungen.“
Dies liegt unter anderem daran, dass die Kinder das Leben im Haushalt eines alkoholkranken Elternteils als tägliche „Normalität“ erleben und doch spüren und wissen, dass dies eben nicht „normal“ ist.
Die häufigste Spätfolge ist das Abrutschen in die Sucht. Studien belegen „…dass Kinder von Alkoholikern, und zwar insbesondere Söhne, als Risikogruppe für die Entwicklung von Alkoholmissbrauch und –abhängigkeit angesehen werden müssen. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass diese Kinder ein bis zu sechsfach höheres Risiko haben, selber abhängig zu werden oder Alkohol zu missbrauchen“. Auch hier warnt Klein vor Verallgemeinerung: „Jedoch ist nicht davon auszugehen (Hervorhebung durch Klein, Anm.) dass alle Kinder von Alkoholikern eine eigene Abhängigkeit oder psychische Störungen entwickeln müssen.“
Zuneigung fehlt, Versprechen werden gebrochen
Kinder in Familien mit zumindest einem suchtkranken Elternteil rücken automatisch in die zweite Reihe. An erster Stelle steht immer das Beschaffungsproblem des/der Alkoholikers /in. Wobei der Co-Elternteil meist damit beschäftigt ist, die Situation entweder zu vertuschen oder selbst unter der Aggression des süchtigen Parts leidet und zusätzlich das Familienleben managen muss. Kinder erleben zu oft, dass Zuneigung fehlt, dass Versprechen gebrochen werden, dass sie selbst in den Trinkeralltag einbezogen werden. Eine jungen Frau, die in der Studie im Vorwort erwähnt wird, erzählt: „Meine früheste Erinnerung ist, dass mein Vater von der Arbeit nach Hause kommt und sofort zum Schnapsschrank geht. … Nach dem Essen begann er ernsthaft zu trinken … Er tat so, als tue er etwas sehr Wichtiges, aber dieser Schweinehund ließ sich einfach nur volllaufen. … An vielen Abenden mussten meine Mutter, meine Schwester und ich ihn ins Bett zerren. Ich musste ihm immer die Schuhe und Socken ausziehen. … Bis ich älter war, glaubte ich, dass dieses Ins-Bett-Schleppen eine ganz normale Sache sei, dass das in jeder Familie gemacht würde.“
Schlimmer wird es, wenn Mutter und Vater dem Alkohol verfallen sind. „Eine … relevante Familienkonstellation besteht aus Elternpaaren, die beide suchtkrank sind. Diese (Kinder) weisen nach den Ergebnissen der bisherigen Forschung das höchste Transmissionsrisiko psychischer Störungen, insbesondere jedoch von Suchtkrankheiten, auf.“ Hier erleben die Kinder den totalen Verlust von Zuwendung oder gelebter Liebe. Trinken wird zum vorgelebten Lebensinhalt – der Griff zur Flasche wird als „Vorbildhandlung“, dem zu viele nacheifern.
Obwohl diese Erkenntnisse nicht neu sind (siehe Plutarch), beklagt Klein: „Kinder von Suchtkranken sind immer noch eine vernachlässigte Problemgruppe in Forschung und Praxis.“
Welche Symptome legen nun die Kleinen an den Tag, die mit dem Alkoholmissbrauch in der Familie groß werden?

Acht Punkte erwähnt die Studie:

1.) Hyperaktivität und Verhaltensauffälligkeiten

2.) Substanzmissbrauch, Delinquenz (Neigung zur Straffälligkeit) und Schulschwänzen

3.) Kognitive Funktionsstörungen

4.) Sozial Interaktionsprobleme

5.) Körperliche Probleme

6.) Angst und Depression

7.) Körperliche Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung

8.) Dysfunktionale Familieninteraktionen

Die Betroffenen reagieren mit Abwehrmechanismen: „Für Kinder in Suchtfamilien gelten nach Meinung der meisten Kliniker besondere Regeln, z.B. dass Gefühlskontrolle, Rigidität, Schweigen, Verleugnung und Isolation geeignete Problembewältigungsverhaltensweisen sind. Es herrschen auch oft extreme Belastungssituationen.

…Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass

sie mehr Streit, konflikthafte Auseinandersetzungen und Disharmonie zwischen den Eltern erleben als andere Kinder;

sie extremen Stimmungsschwankungen und Unberechenbarkeiten im Elternverhalten ausgesetzt sind;

sie häufiger in Loyalitätskonflikte zwischen den Elternteilen gebracht werden;

Verlässlichkeiten und Klarheiten im familiären Ablauf weniger gegeben sind…;

Sexuelle Belästigung und aggressive Misshandlungen häufiger vorkommen.“

Wobei Mädchen anders reagieren als Burschen. Sie sind Mutter-fixiert. „Somit weisen diese jungen Frauen (suchtabhängige, Anm.) insgesamt in 36,5% aller Fälle eine suchtkranke Mutter auf (!) Für die männlichen Probanden trifft die nur in 27,1% der Fälle zu.“
In solchen Fällen tritt auch immer wieder die Frage der „Vererbbarkeit“ des Alkoholismus auf. Plutarchs Aussage „Trinker zeugen Trinker“ ist nicht in medizinisches Granit gemeißelt, wenngleich Studien anderer Wissenschaftler darauf hinweisen, dass es genetische Faktoren gibt. Klein beruft sich in seiner Studie auf stichprobenartige Die Kinder von AlkoholikernErgebnisse von Kollegen: „Für die Patienten einer altersgemischten Stichprobe (25 bis 60 Jahre) männlicher Alkoholiker eruierten Buydens- Branchey … signifikante Unterschiede in der Familiengeschichte in Abhängigkeit von Lebensalter im Beginn der Alkoholismuskarriere (‚age of onset‘). So wiesen die 66 Männer, die schon vor ihrem 20. Lebensjahr alkoholabhängig geworden waren, in 73,3% der Fälle einen alkoholabhängigen Vater auf, wahrend für die Männer, de erst nach dem 20. Lebensjahr alkoholabhängig geworden während, die entsprechende Quote 45,6% betrug. Die Autoren interpretieren ihre Ergebnisse als einen Hinweis auf das Vorhandensein genetischer Risikofaktoren.“
Noch etwas wird übersehen: Kinder von Alkoholikern neigen oft zu physischen Leiden: „Bezüglich ihrer Kinder im Alter bis zu 19 Jahren … wurden dann die stationären Krankenbehandlungen … analysiert. Es lagen dadurch Daten für 595 COAs (Children Of Alcoholics, Anm.) vor, denen eine Vergleichsgruppe von 633 Non-COAs gegenübersteht, vor. Die Zahl der Krankenhausaufenthalte für die COAs ist um 23,3% höher, als die für die Non-COAs. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer liegt um 61,7% höher.“
In Zukunft mehr suchtbelastete Familien
Dass es besser wird, ist laut Klein kaum zu erwarten. Er schließt aus anderen Untersuchungen, „…dass künftig mit mehr alkoholabhängigen Personen zu rechnen sein wird, …(und) dass in Zukunft mehr Kinder in suchtbelasteten Familien aufwachsen werden und durch das beschriebene Transmissionsrisiko wiederum auch die Zahl der in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter beeinträchtigten Personen zunehmen wird“.

Und diese Kinder erwartet eine Jugend mit folgender Zukunft:

* Nicht zu Freunden gehen, um nicht in die Zwangslage zu geraten, diese zu sich nach Hause einladen zu müssen, wo die Eltern sich beschämend verhalten könnten

* In der Schule mit den Gedanken zu Hause sein, was dort gerade Schlimmes passiert oder bald passieren wird

* Andere Kinder beneiden oder eifersüchtig auf diese sein, wenn sie Spaß und Leichtigkeit mit ihren Eltern erleben

* Sich als Kind unter Gleichaltrigen isoliert, abgewertet und einsam fühlen

* Sich von den Eltern vernachlässigt, bisweilen als ungewolltes Kind fühlen

* Für die Eltern sorgen, sich um sie ängstigen, insbesondere, wenn die Mutter trinkt

* Sich um Trennungsabsichten oder vollzogene Trennungen der Eltern unablässig Sorgen machen

* Als Jugendlicher die Eltern nicht im Stich lassen wollen (z.B. nicht von zu Hause ausziehen können)

* Die Eltern für ihr Fehlverhalten entschuldigen. Lieber andere Menschen oder sich selbst beschuldigen

* Vielfach Trennung und Versöhnung der Eltern erleben und sich nicht auf einen stabilen, dauerhaften Zustand verlassen können

* Wenn der trinkende Elternteil schließlich mit dem Alkoholmissbrauch aufhört, weiterhin selbst Probleme haben oder solche suchen

Prof. Dr. Michael KleinDas Themenfeld ist unendlich groß: Man könnte nun noch heranführen, dass Kinder aus Trinkerfamilien bei oft gleicher Intelligenz mit Gleichaltrigen deutliche Mängel bei den sprachlichen Fähigkeiten aufweisen. Dass viele Mädchen in ihrer Verzweiflung – häufiger als Buben – durch Fleiß und herausragende schulische Leistungen versuchen, das Manko zu kompensieren (was im Elternhaus oft wenig gewürdigt wird – der Frustrationslevel steigt).
Klein empfiehlt – soweit dies rechtzeitig erkennbar ist – diese Kinder und Jugendlichen in eine Frühintervention einzubeziehen. Nur so können sie frühzeitig adäquate Hilfe erhalten.
Und das soziale Umfeld sollte diesen Kindern gegenüber anders reagieren. Die landläufige Meinung: „Das sind die Kinder von den Besoffenen, aus denen wird eh nix“, müsste durch Aufklärung in Verständnis umgewandelt werden. Mancher Erwachsene würde an den Leiden, die diese Kleinen und Jugendlichen ertragen müssen, wahrscheinlich zerbrechen…

Prof. Dr. Michael Klein
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Web-Adresse: www.addiction.de

Fotos: Werner Schneider (2), Prof. Dr. Michael Klein (1)