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Alkohol und Spiritualität
Geist statt Weingeist

von Harald Frohnwieser

Jenseitsforscher, Geist- und Naturheiler sowie spirituelle Führer bieten Ihre Hilfe an, wenn es darum geht, Menschen von ihrer Alkoholsucht zu befreien. Alles Blödsinn? Oder steckt doch ein Körnchen Wahrheit darin? Sucht hat doch auch etwas mit „suchen“ zu tun. Die Frage ist nur, wonach wir streben. Nach Geld, Macht und sexueller Erfüllung oder doch nach einem Weg zu uns selbst, der uns offenbart, wer wir sind und wohin wir gehören? Immer mehr Therapeuten erkennen an, dass es mit einem klinischen Entzug allein nicht getan ist. „Spiritum statt Spiritus“, oder frei übersetzt „Geist statt Weingeist“ ist für viele trockene Alkoholiker die Voraussetzung dafür, ein gesundes und erfülltes Leben ohne Alkohol zu führen. Egal, ob und wie oft man einen Gottesdienst besucht…

„Alle Süchtigen suchen etwas, machen jedoch auf ihrer Suche zu früh halt und bleiben so auf einer Ersatzebene halt“, stellt die deutsche Geistheilerin Myriella (bürgerlich: Mathilde Schruff) auf ihrer Homepage www.heiler-praxis-schruff.de im Internet fest. „Alle Formen machen süchtig, schriebt sie weiter, wenn man sie nicht durchschaut: Geld, Macht, Ruhm, Besitz, Einfluss, Wissen, Vergnügen, Essen, Trinken, Askese, religiöse Vorstellungen, Drogen. Was immer es ist - alles hat seine Berechtigung als Erfahrung, und alles kann zum Suchtmittel werden, wenn wir versäumen, uns davon wieder zu lösen. Sucht ist die Feigheit vor neuenPsychiater Carl Gustav Jung Erfahrungen.“ Dazu gehört auch das Trockenwerden, die Abstinenz. Ein Zustand, vor dem viele Trinker Angst haben. Und sich lieber dem Stillstand, dem Gewohnten hingeben, als neue Wege zu begehen.
„Der Alkoholdurst entspricht auf einer niedrigen Stufe dem geistigen Durst unseres Wesens nach Ganzheit, die man in der Sprache des Mittelalters ,Vereinigung mit Gott' nannte“, schrieb im Jänner 1961 der bekannte Psychiater Carl Gustav Jung (1875 – 1961) in einem Antwortbrief an den Mitbegründer der Anonymen Alkoholiker, Bill Wilson, als dieser ihm von seinen spirituellen Erfahrungen berichtete. Jung weiter: „Wie lässt sich eine solche Erkenntnis in einer Sprache ausdrücken, die in der heutigen Zeit nicht missverstanden wird? Der einzig richtige und legitime Weg zu einer solchen Erfahrung besteht darin, sie tatsächlich zu machen, und das kann nur geschehen, wenn der Weg zu einem höheren Verständnis eingeschlagen wird.“ Nachdem Jung seine Sicht über das Böse in der Welt beschrieb, schloss er mit den Worten: „Auf Lateinisch heißt Alkohol „spiritus“, und man verwendet dasselbe Wort für die höchste religiöse Erfahrung wie für das ins Verderben führende Gift (Alkohol). Die hilfreiche Formel lautet deshalb: Spiritus contra Spiritum (Geist anstelle von Weingeist).“
Geistiges Erwachen
Ein Grundsatz, der voll ins Konzept der Anonymen Alkoholiker passt. Und von ihnen übernommen wurde. „Auch wenn du Vorurteile gegen religiöse Formulierungen hast, lass dich dadurch nicht davon abhalten, dich ehrlich zu fragen, was diese Begriffe für dich bedeuten“, riet Bill Wilson allen Alkoholikern. Für ihn war auch klar, dass es mit der Abstinenz alleine nicht getan ist. „Ist Trockenheit alles, was wir von einem geistigen Erwachen erwarten?“, stellt er die Frage und gibt im selben Atemzug auch die Antwort: „Nein, Trockenheit ist nur der Anfang; sie ist nur das erste Geschenk des erstens Erwachens. Wenn wir mehr Geschenke empfangen wollen, muss unser Erwachen weitergehen. Beim Weitergehen merken wir, dass wir Stück für Stück das alte Leben abwerfen können – das Leben, in dem nichts mehr klappte – für ein neues Leben, in dem es klappen kann und auch tatsächlich klappt, wie immer die Bedingungen auch sein mögen.“
Sucht als Chance
Alkoholismus als Grundlage für ein geistiges Erwachen. Dies sieht auch der Wissenschaftler, Arzt undDr. Douglas Baker Schriftsteller Dr. Douglas Baker. In seinem Buch „Sucht als Chance: Die spirituelle Dimension des Alkoholismus“ befasst der 1922 in England geborene und in Südafrika aufgewachsene Esoteriker ausführlich mit diesem Thema. „Es heißt, Trunksucht sei lediglich ein äußeres Anzeichen für den inneren Drang nach mystischer Vereinigung“, schreibt er in seinem 1991 erschienen Werk. „Sollte dies auf Alkoholiker zutreffen, würde es erklären, weshalb dieser Zustand eintritt, wenn Lebensstil, Ehe, Beschäftigung oder kulturelle Interessen keine seelische Äußerung zulassen. Das Einfließen spiritueller Wasser wird verhindert, weil sie nicht hinausfließen können oder sich in einer unfruchtbaren, erstickenden Umgebung nicht zu äußern vermögen.“ Baker kommt zu dem Schluss: „Das soll nicht heißen, dass Alkoholiker nicht kreativ wären. Manche sind es sogar sehr. Doch ob sich dabei ihr Seelenziel äußert, ist eine andere Frage.“
Namenlose Angst
Für Baker steht außer Frage, dass der Alkoholiker den Kontakt zu seiner Seele verloren hat. Ein trocken gewordener Patient beschrieb ihm seinen Zustand sehr plakativ: „Mir schine, als habe der Verfall tief in meinem Inneren begonnen und sich mental, emotional und schließlich körperlich gezeigt. Irgendwo auf diesem Abstieg begann ich, immer unkontrollierter zu trinken.“ Dazu Dr. Douglas Baker: „Die Gefühle werden immer oberflächlicher. Der Sinn für die Bedeutung von Kultur und Familie geht verloren. Energien, die zuvor in die verschiedensten Bestrebungen flossen, konzentrieren sich nur noch auf eins: das Stillen des körperlichen Durstes um das im Inneren Verlorene zu kompensieren.“
Am Ende des Verfalls steht für Baker nur noch die namenlose Angst: „Sie ist so unermesslich, dass manche sie als ,Mutter aller Ängste' beschrieben haben. Doch erst wenn dieser Tiefpunkt erreicht ist, in dem die höllischstenBill Wilson Erfahrungen mit oder ohne Delirium tremens stattfinden, kann der Bogen wieder aufsteigen und das harte Ringen nach dem Aufstieg und der Rehabilitierung beginnen.“ Für den Dozent, der viele Jahre lang an der Universität Sheffield lehrte, ist auch klar, dass diese Angst notwendig ist, um von seiner Sucht befreit zu werden. „Verstünden die Therapeuten das Wesen dieser Angst und deren Ursachen, könnten die Behandlungsmethoden revolutioniert werden und die Heilungschancen stünden besser“, ist er überzeugt.
Verantwortung
Was die Heilungschancen betrifft, hat für den klinischen Psychologen die Verantwortung einen großen Stellenwert. „Es ist nicht leicht, wieder eingegliederte Alkoholiker davon zu überzeugen, dass die Übernahme von Verantwortung sehr heilsam ist“, schreibt Baker in seinem Buch. Und weiter: „Wenn jedoch ein esoterisches Verständnis vorhanden ist und die geistige Kraft zurückkehrt, sollte es zur Rehabilitierung gehören, dass der Betreffende mehr Verantwortung für andere übernimmt, als gewöhnlich einem fühlenden Wesen aufgebürdet wird. Einfacher ausgedrückt: Die beste Therapie ist die, welche zur Schülerschaft führt, zur Sorge um das Wohlergehen anderer und dazu, die Verantwortung für die Erde mitzutragen. Das ist der Weg des Schülers.“

Fotos: douglasbaker.com (1), Anonyme Alkoholiker (1)