Alkoholabhängigkeit und die Forschung
Die fünf Trinktypen nach Jellinek

von Harald Frohnwieser

Er hatte die Lebensgeschichten von mehreren Tausend Alkoholikern erforscht. Und sie in vier Phasen mit insgesamt 45 Stufen zusammengefasst: Der US-Wissenschaftler Dr. Elvin Morton Jellinek (1890 – 1963) wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beauftragt, die Alkoholkrankheit ausgiebig zu erforschen. 1960 hat er seine Arbeit in dem Buch „The Disease Concept of Alcoholism“) veröffentlicht. Jellinkes Schlussfolgerung, dass eine Alkoholabhängigkeit in vier Phasen (Alpha, Beta, Gamma, Delta) und innerhalb dieser in 45 Stufen erfolgt, hat heute noch Gültigkeit. Und dann gibt es noch den Epsilon-Trinker, das ist der Phasentrinker, der sehr lange ohne Alkohol auskommen kann, dann aber umso heftiger und exzessiver trinkt.

Dr. Elvin Morton JellinekDie Reihenfolge dieser Phasen steht fest, wobei die Grenzen freilich fließend sind. Bei den 45 Stufen hingegen ist es so, dass der Alkoholiker nicht jede dieser Stufen durchlaufen muss. Die Stufen sind vielmehr typische Merkmale oder Symptome der fortschreitenden Alkoholabhängigkeit. Mitunter können manche Stufen auch übersprungen oder auch ganz weggelassen werden. Eine ganz besondere Bedeutung hat jedoch die 8. Stufe, die bei allen Alkoholabhängigen vorkommt: der Kontrollverlust. Hier trennt sich der Genuss- oder Gesellschaftstrinker vom Alkoholiker, der trinken muss. Ab dieser Stufe gibt es kein Zurück mehr zu einem normalen Trinkverhalten, das man unter Kontrolle hat. Hat man diese Stufe erst einmal erreicht, ist man krank und kann auf diesem Gebiet nicht mehr geheilt werden. Das Erfreuliche dabei: Man kann die Krankheit – sei es mit Hilfe einer klassischen Therapie oder mit Unterstützung einer Selbsthilfegruppe – zum Stoppen bringen, in dem man völlig abstinent lebt. Unbeschwert und genussvoll trinken wird man freilich nie wieder können.

Phasen & Stufen (45):

α

Alpha: Voralkoholische Phase

In dieser Phase befindet sich der spätere Alkoholiker noch voll im gesellschaftlichen Bereich seines Trinkverhaltens. Aber: Er stellt bald eine befriedigende Erleichterung fest, wenn er Alkohol trinkt. Er merkt aber noch nicht, dass dieses befreiende Gefühl vom Alkohol kommt, sondern schreibt dies dem Umfeld, in dem er trinkt, zu. Das kann eine fröhliche Kartenspieler-Runde ebenso sein wie eine Geburtstagsfeier oder die Hochzeit eines Freundes oder einer Freundin. Immer öfter werden solche Gesellschaften, ohne dass man es merkt, aufgesucht. Nach einer gewissen Zeit, die oft recht individuell verläuft und Monate bis Jahre betragen kann, kommt es zu einer Erhöhung der Alkoholtoleranz, was bedeutet, dass größere Mengen an Alkohol gebraucht werden, um die gewohnt befriedigende Wirkung zu erreichen. Am Ende dieser Phase braucht der Trinker täglich sein Quantum Alkohol, um ein für ihn angenehmes Leben zu führen. In dieser Stufe kommt weder dem Trinker noch seinem Umfeld das Trinkverhalten verdächtig vor.

β
Beta: Anfangsphase

1.) Erinnerungslücken: Plötzliches Auftreten von Erinnerungslücken sind signifikant für den Beginn dieser Phase. Man kann zwar eine vernünftige Unterhaltung führen oder gar noch arbeiten, dennoch kann es passieren, dass man sich am nächsten Tag nur noch schemenhaft daran erinnern kann. Hier hört der Alkohol auf, ein Getränk zu sein, das einen entspannt – er bekommt eine medizinische Bedeutung.

2.) Heimliches Trinken: Schön langsam merkt der Alkoholiker, wenn meistens auch unbewusst, dass er mehr trinkt als andere Menschen in seiner Umgebung, daher beginnt er heimlich zu trinken.

3.) Gedanken an Alkohol: Man muss andauernd an Alkohol denken, auch wenn man mal nichts trinkt.

4.) Gieriges Trinken: Das erste Glas wird hastig getrunken.

5.) Schuldgefühle: Dem Trinker wird allmählich bewusst, dass er zu viel trinkt, er entwickelt daher Schuldgefühle.

6.) Anspielungen vermeiden: Bei Unterhaltungen werden Anspielungen auf den Alkohol bewusst vermieden.

7.) Gedächtnislücken: Die Erinnerung lässt den Alkoholiker immer öfter im Stich, die Gedächtnislücken häufen sich.

γ
Gamma: Kritische Phase

8.) Kontrollverlust: Nach dem ersten Glas entsteht ein unwiderstehliches Verlangen nach mehr Alkohol. Dieses Verlangen hält so lange an, bis der Trinker zu betrunken ist, um weiter zu trinken oder zu krank dafür ist. Der Kontrollverlust bedeutet jedoch nicht, dass der Trinker ab dieser Stufe nun ständig trinken muss, er tritt vielmehr immer dann ein, wenn das erste Glas Alkohol konsumiert wird.

9.) Erklärungen: Es kommt nun oft zu Erklärungen, warum man so viel trinkt: Man redet sich ein, dass man derzeit ja einen guten Grund hat, warum man trinkt („Niemand versteht mich“, „In der Firma werde ich schikaniert“, „Meine Familie will immer etwas von mir“ etc.).

10.) Ausreden: Die Ausreden, warum man trinkt, werden zu einem wahren „Erklärsystem“, Angehörigen, Freunden und Kollegen fällt das Trinkverhalten des Alkoholikers auf. Warnungen wie „Wenn du so weiter machst, wird das nicht gut für dich enden“ werden nun öfter ausgesprochen.

11.) Selbstsicherheit und Aggression: Auf das Verhalten (und auf die Vorwürfe oder Warnungen) seiner Umwelt reagiert der Alkoholiker mit einer gekünstelten, übergroßen Selbstsicherheit, die auch in Aggression umschlagen kann.

12.) Isolation: Durch seine Ausreden isoliert sich der Alkoholkranke zusehends von seiner Umwelt, der er an seiner jetzigen Lage die Schuld gibt. Aggressionen können sich daher verstärken.

13.) Zerknirschtheit: Massive Schuldgefühle gepaart mit einer inneren Zerknischtheit treten auf. Sie werden mit Alkohol bekämpft.

14.) Abstinenz: Da der soziale Druck zunimmt, kann es vorkommen, dass es immer wieder zu einer vorübergehenden Abstinenz kommt.

15.) Rückfälle: Die Abstinenz dauert freilich nicht lange an, es kommt zu Rückfällen. Daher werden Regeln aufgestellt, z.B. nicht vor einer bestimmten Tageszeit zu trinken, nur Bier oder Wein aber keinen Schnaps zu trinken usw.

16.) Streit: Der Umwelt fallen diese Regeln natürlich auf, die den Alkoholiker als solchen noch mehr entlarven. Daher kommt es oft zum Streit, Freunde werden fallen gelassen.

17.) Arbeitsplatzwechsel: Der Arbeitsplatz wird aus Konsequenz des feindseligen Verhaltens des Alkoholikers seiner Umwelt gegenüber gewechselt. Oft geschieht dies auch, um Konsequenzen vorzugreifen.

18.) Alkohol als Medizin: Der Alkoholiker kommt sich immer mehr verlassen vor, sein einziger Freund – und seine Medizin – ist der Alkohol.

19.) Totale Konzentration auf die Sucht: Der Alkoholiker konzentriert sich nur noch auf die Befriedigung seiner Sucht. Alles, was ihn am Trinken hindern könnte, wird als störend empfunden, andere Interessen wie Beruf, Hobbys oder soziale Beziehungen existieren nicht mehr.

20.) Schuldzuweisungen: Das Gefühl, die Umwelt sei an seiner Misere schuld, wird verstärkt.

21.) Selbstmitleid21.) Selbstmitleid: Das Selbstmitleid wird immer größer („Ich kann doch nichts dafür, die anderen wollen immer etwas von mir“).

22.) Flucht: Um endlich seiner Isolation zu entkommen, setzt entweder eine gedankliche (man gaukelt sich selbst etwas vor) oder eine tatsächliche (geografischer Wechsel) Flucht ein.

23.) Flucht der Angehörigen: Eine Änderung des Familienlebens tritt ein. Nicht nur der Alkoholiker isoliert sich von seiner Familie, auch die Angehörigen entfernen sich von ihm. Um ihm nicht zu begegnen, versucht man, weg zu sein, wenn er daheim ist.

24.) Unwillen: Sogenannter grundloser Unwillen.

25.) Verstecke: Der Alkoholvorrat zu Hause wird immer wichtiger, der Alkohol wird von ihm auch vor den anderen Familienmitgliedern versteckt.

26.) Ernährung: Die Nahrungsaufnahme wird vernachlässigt.

27.) Krankenhaus: Erste Aufenthalte in einem Spital aufgrund des Alkohols.

28.) Sex: Abnahme des Sexualtriebes.

29.) Eifersucht: Grundlose (alkoholische) Eifersucht gegen den Partner, der Partnerin.

30.) Zerrüttung: Der Alkoholiker ist mittlerweile seelisch wie körperlich so zerrüttet, dass er den Tag ohne Alkohol nicht mehr beginnen kann. Das Trinken beruhigt seine Nerven, das morgendliche Zittern hört dadurch auf und gibt ihm Kraft, überhaupt aus dem Haus zu kommen. Auch arbeiten ohne seinen „Stoff“ ist nun nicht mehr möglich.

δ
Delta: Chronische Phase

31.) Gleichgültigkeit: Großes Desinteresse gegenüber der Umwelt. Gleichzeitig kommt es oft vor, dass der Alkoholiker bereits am helllichten Tag betrunken ist. Der Rauschzustand kann mehrere Tage betragen, Aktivitäten wie zum Beispiel ein Spaziergang oder das Lesen eines Buches können nicht mehr unternommen werden. Bei dieser Stufe beginnt der ethische Abbau.

32.) Abbau: Der bereits vorhandene ethische Abbau schreitet weiter fort.

33.) Denkvermögen: Das Gehirn wird stark beeinträchtigt, sachliche Überlegungen können nicht mehr angestellt werden.

34.) Psychosen34.) Psychosen: Durch den Alkohol bedingte Geistesstörungen wie Halluzinationen oder psychosomatische Reaktionen treten auf.

35.) Unteres Niveau: Der Alkoholiker trinkt mit Leuten, die oft weit unter seinem Niveau liegen und mit denen er sonst keinen Kontakt hätte.

36.) Technische Produkte: Wenn kein „normaler“ Alkohol vorhanden ist, wird Zuflucht zu technischen Produkten, die hochprozentigen Alkohol enthalten, gesucht. Dazu zählen u.a. Kölnischwasser, Haarwasser oder Franzbranntwein, der zum Einreiben gedacht ist.

37.) Toleranzabbau: Die Toleranz gegenüber dem Alkohol wird weiter abgebaut: Um zu einem Vollrausch zu kommen, werden keine großen Mengen mehr benötigt. Wer nicht weiß, dass es sich dabei um einen alkoholkranken Menschen handelt, glaubt, dass dieser Mensch kaum etwas verträgt („Der ist ja schon nach einem Glas besoffen.“).

38.) Zittern, Angstzustände: Undefinierbare Ängste und Zittern halten andauernd an.

39.) Depressionen: Befindet sich in diesem Stadium kein Alkohol im Körper, kommt es zu starken Depressionen und Angstzuständen. Mit Hilfe des Alkohols gehen diese Symptome wieder weg.

40.) Vergiftung: Infolge der chronischen Alkoholintoxikation (Vergiftung) kommt es zur Schädigung des Nervensystems. Symptome dafür sind meist Kribbeln, Taubheitsgefühl sowie Greif- und Gangstörungen.

41.) Besessenheit: Um die Ängste, das Zittern oder um die Hemmungen zu beseitigen, wird das Trinken zu einer wahren Besessenheit. In diesem Stadium ist der Alkoholiker buchstäblich gezwungen, andauernd zu trinken.

42.) Religiöser Wahn: Da der Alkoholiker sein Verhalten immer weniger erklären kann, kommt es zu undefinierbaren religiösen Vorstellungen, die in einen regelrechten religiösen Wahn ausarten können.

43.) Niederlage: Doch auch diese religiösen Vorstellungen können nicht zu einer Antwort führen, die dem Alkoholiker erklärt, warum es so weit mit ihm gekommen ist. Er gesteht in diesem Stadium seine Niederlage ein und findet sich damit ab, dass er trinkt.

44.) Suizidversuche: Damit verbunden sind seelische Zusammenbrüche, die oft mit einer alkoholischen Epilepsie verbunden sind. Selbstmordversuche sind nun keine Seltenheit mehr.

45.) Delirium tremens: Die Endstufe ist nun erreicht, es kommt zum Alkoholdelirium, vor allem dann, wenn nichts getrunken wird. Damit verbunden sind meist visuelle Wahnvorstellungen, zeitliche und räumliche Desorientierung, das Hören von Stimmen oder von Musik. Es kann auch zu einer irreparable Zerstörung der Gehirnzellen kommen. Diese Stufe kann mitunter tödlich sein, ärztliche Hilfe sollte von Angehörigen unbedingt geholt werden.

Wie gesagt, nicht alle Stufen müssen erreicht werden, nicht immer muss die Reihenfolge stimmen. Aber Dr. Jellineks Erkenntnisse haben immer noch ihre Gültigkeit und zeigen, wie schwerwiegend eine Alkoholabhängigkeit sein kann…

ε
Epsilon: Der Phasentrinker

Dieser Trinkertyp (auch Quartalssäufer genannt) kommt oft lange Phasen (mehrere Wochen oder Monate, mitunter sogar Jahre) hindurch ganz ohne Alkohol aus, doch wenn er trinkt, dann sehr heftig und exzessiv. Oft endet eine Sauftour für ihn (oder für sie) in einem Krankenhaus oder in einer Ausnüchterungszelle.

Fotos: Vier im roten Kreis (2), Privat (1)

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