Neue Erkenntnisse zu Alkohol und Gewalt
Aggressive Impulse auf dem Weg nach außen

von Harald Frohnwieser

Mehr als 30 Prozent aller Gewaltdelikte werden von alkoholisierten Tätern begangen, gefährliche und schwere Körperverletzungen stehen in Deutschland bei den Gewaltdelikten unter Alkoholeinfluss mit fast 40.000 Fällen pro Jahr an der Spitze. Alkohol macht aggressiv, das ist keine Frage. Aber warum ist das so? Was passiert im Gehirn, wenn man zu viel Bier, Wein oder Wodka intus hat? Und: Warum wird nicht jeder Mensch zu einer Gefahr für andere, auch wenn er zu viel Alkohol getrunken hat? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist der Ansicht, dass Alkohol von allen bewusstseinsverändernden Substanzen am ehesten aggressiv macht. Experten glauben zu wissen, woran das liegt.

Der 31-jährige Peter ist im Grunde genommen ein friedfertiger Mensch, gerne zu Späßen aufgelegt und Gleichaltrigen gegenüber sehr loyal. Wenn er mit seinen Freunden ausgeht, ist es meist er, der für gute Stimmung sorgt. Vor allem dann, wenn er beim zweiten Bier angelangt ist, nehmen seine Späße kein Ende mehr. Die Atmosphäre ist sehr locker, es wird viel gelacht in der Runde. Bis zu Peters dritten Bier. Von einer Sekunde auf die andere bricht die Stimmung. Am Nebentisch sitzen ein paar junge Männer, einer von ihnen schaut zu jenem Tisch, an dem Peter mit seinen Freunden sitzt. Ein harmlose Situation, könnte man meinen. Doch Peter missfällt, dass jemand zu ihm hinsieht. „Was schaust denn so blöd“, ruft er dem jungen Mann zu. Dieser meint, dass er eine Ruhe geben soll, doch Peter steht auf und versetzt seinem Kontrahenten eine schallende Ohrfeige. Sekunden später ist eine wüste Schlägerei im Gange, bei der Peter ein blaues Auge abbekommt. Seine Freunde haben längst das Weite gesucht. „Mit Peter ist es immer dasselbe“, sagt einer resigniert, „ab dem dritten Bier wird er aggressiv und sucht Streit.“
Weitaus schlimmer ging eine aggressive Tat unter Alkoholeinfluss zu Ostern im Jahr 2011 in Berlin aus. Ein betrunkener 18-Jähriger schlug einen Handwerker in einer U-Bahn mit einer Flasche nieder und trat anschließend mehrmals mit dem Fuß auf sein am Boden liegendes Opfer ein. Der Handwerker erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma, einen Nasenbeinbruch und Prellungen. Eine Gutachterin attestierte, „dass die Steuerungsfähigkeit beim Angeklagten zur Tatzeit durch Alkohol erheblich vermindert gewesen sein könnte“. Medienberichten zufolge fühlte sich der U-Bahn-Schläger unsicher und tendenziell als Opfer. Der Schüler kam mit einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten davon.
Alkohol bringt Botenstoffe durcheinander
Warum macht Alkohol aus einem an sich friedfertigen Menschen eine tickende Zeitbombe in puncto Gewalt? Dazu der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, Prof. Dr. med. Andreas Heinz: „Indem Alkohol die Botenstoffsysteme im Gehirn durcheinanderbringt, wird neben der dämpfendenDirektor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité, Prof. Dr. med. Andreas Heinz Wirkung auch die Verhaltenskontrolle beeinflusst.“ Heinz hat gemeinsam mit der Diplom-Psychologin Dr. Anne Beck aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zusammengefasst, was die Ursachen der aggressionssteigernden Wirkung von Alkohol betrifft. „Einem Alkoholisierten fällt es schwer, über ein Verhalten, wie zum Beispiel ein versehentlicher Rempler in einer Bar, hinwegzusehen“, erklärt Heinz. Der Grund dafür: Alkohol sorgt dafür, dass der Botenstoff Dopamin vermehrt ausgeschüttet wird. Dopamin macht den Menschen entscheidungsfreudiger, spontane, unüberlegte Handlungen werden schneller in die Tat umgesetzt. Zudem fördert Dopamin aggressive Ausbrüche. Dazu kommt, dass der Alkohol die Funktion der Amygdala erhöht. Diese Hirnregion ist zuständig dafür, dass der Mensch in bestimmten Situationen Furcht und Angst empfindet. „Das erklärt, warum jemand in angetrunkenem Zustand eine Situation eher als bedrohlich empfindet“, so Heinz weiter. „Die kontrollierenden Instanzen im Gehirn werden durch Alkohol dagegen geschwächt. Alkoholisierten Menschen fällt es daher schwerer, ihr Verhalten zu steuern und situationsangemessen zu reagieren.“
Nicht jeder Betrunkene wird aggressiv
Aber sind es wirklich nur die veränderten Hirnfunktionen, die aggressiv machen? Nein, denn sonst müsste jeder, der zu tief ins Glas schaut, sofort zuschlagen, wenn er sich – aus welchen Gründen auch immer – bedroht fühlt. Wissenschaftler sind sich darüber einig, dass bei der Entstehung alkoholbedingter Aggression soziales Lernen eine große Rolle spielt. Dazu Andreas Heinz: „Wenn Kinder in ihrer Familie erlebt haben, wie Eltern unter Alkoholeinfluss aggressiv werden, dann speichern sie diese Verknüpfung im Gehirn ab.“ Solche Erfahrungen können also ganz spezifische ,Wirkungserwartungen‘, die schon bei Kindern im Vorschulalter festgestellt wurden, an Alkohol hervorrufen. Bei manchen Menschen werden dies Erwartungen später aktiviert und führen zu einem aggressiven Verhalten, wenn sie Alkohol trinken. Aber es gibt auch ganz bestimmte Eigenschaften, die die Aggressionsbereitschaft unter Alkoholeinfluss fördern: Menschen mit wenig Einfühlungsvermögen oder Menschen, die Gewalt als durchaus angemessen betrachten, also keine Regung zeigen, wenn sie zum Beispiel im Fernsehen Bilder von Gräueltaten sehen, werden eher dazu neigen, zuzuschlagen, wenn ihr Alkoholpegel eine bestimmte Skala erreicht hat.
Gewalterfahrungen spielen große Rolle
Auch Gewalterfahrungen am eigenen Leib spielen eine große Rolle dabei, ob jemand selbst gewalttätig wird, wenn er unter Alkoholeinfluss steht. Wer als Kind oft von seinen Eltern geschlagen wurde, oder später, als Erwachsener, Gewalt erfahren hat, neigt dazu, relativ harmlose soziale Auseinandersetzungen als bedrohlich zu empfinden und wird dementsprechend aggressiv darauf reagieren.
Auch traumatisierte Tiere, denen man Alkohol verabreichte, reagierten aggressiver als ihre betrunkenen Artgenossen, die bisher eher sorglos aufwuchsen. Das Team um den Psychologen James Dee Higley von der Brigham Young University in Utah, erforschte, wie sich belastende Umwelteinflüsse wie soziale Isolation auf junge Rhesusaffen auswirken. Im Experiment trennten die Forscher Affenkinder von ihren Müttern, während gleichaltrige Artgenossen in mütterlicher Geborgenheit aufwuchsen. Alle Tiere konnten sich jederzeit an einer alkoholhaltigen Lösung bedienen, wenn ihnen danach war. Das Ergebnis: Die isolierten Affen begeisterten sich eher für den Alkohol und genehmigten sich viel öfter einen Schluck als die Kontrolltiere. Mehr noch: Sie waren auch ihren Artgenossen gegenüber viel aggressiver als die Affen, die bei ihren Müttern aufwuchsen.
Unterschied zwischen Männer und Frauen
Gibt es, was die Aggression unter Alkoholeinfluss betrifft, einen Unterschied zwischen den Geschlechtern? Neigen betrunkene Männer eher zur Gewaltbereitschaft als Frauen? Dazu Prof. Heinz: „Zum einen scheint es so zu sein, dass Alkohol bei Männern die Konzentrationsfähigkeit stärker herabsetzt als bei Frauen. Das könnte eine Erklärung dafür sein, dass die Wahrnehmungs- und Kontrollfähigkeit von Männern in betrunkenem Zustand stärker eingeschränkt ist. Zum anderen neigen Männer aufgrund traditioneller Rollenmuster eher zu körperlichen Auseinandersetzungen. Diese Muster haben einen starken Einfluss. Sie sorgen dafür, dass aggressives Verhalten bei Männern noch immer eher akzeptiert wird als bei Frauen.“
Auch bei sexuellen Straftaten spielt Alkohol oft eine Rolle. Im Jahr 2012 wurden in Deutschland an die 2000 Übergriffe von alkoholisierten Tätern zur Anzeige gebracht, doch da viele Opfer als Scham nicht zur Polizei gehen, wenn sie sexuell belästigt oder gar vergewaltigt wurden, ist die Dunkelziffer um ein Vielfaches höher. „Bei ungefähr jedem vierten aufgeklärten Fall dieser Gewaltdelikte standen die Täter unter Alkoholeinfluss“, weiß die Direktorin der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Prof. Dr. Elisabeth Pott. Die BZgA hat darauf reagiert und eine Infokampagne gestartet. „Mit neuen Motiven sensibilisieren wir verstärkt für das Risiko von Gewalt und sexuellen Übergriffen durch überhöhten Alkoholkonsum“, so Elisabeth Pott. Auch potentielle jugendliche Gewalttäter will man mittels Plakate erreichen, die den schmalen Grat zwischen „Flirt“ und aggressiver „Anmache“ bildlich darstellen.
Alles in allem haben die Wissenschaftler herausgefunden, dass es nicht der Alkohol an sich ist, der Menschen aggressiv macht. Thorsten Kienast, Ärztlicher Direktor der Max-Grundig-Klinik Bühl bei Baden-Baden und Chefarzt der Abteilung für Psychologische Medizin, bringt es auf den Punkt: „Genau genommen macht Alkohol nicht aggressiv, er führt nur dazu, dass sich aggressive Impulse leichter einen Weg nach außen bahnen können.“

Foto: Prof. Dr. med. Andreas Heinz (1)