Ein Leben zwischen Karriere, Suff, Depression und Kopfschuss
Letzter Kalendereintrag: Erledigt…
von Werner Schneider
Walter, jetzt 62 Jahre alt und Pensionist, hat rund 40 Jahre lang gemeint, seine Trinkgewohnheiten seien „normal“. Er erzählt „Alk-Info“, welche Höllen man dabei beruflich und privat durchwandert. Doch nach vielen Jahren kam der alkoholbedingte Absturz. An einem 1. September, einem Montag, standen zwei Termine in seinem Kalender: „Bank ABC - Treffen mit Herrn Sowieso wegen Fälligstellung des Kreditrahmens.“ und eine Stunde danach: „Bank XYZ - Treffen mit Herrn Gen. Dir. Sowieso wegen Halbierung des Auftragsvolumens.“ Beides hätte den Todesstoß für die Firma bedeutet. Am Tag davor, am Sonntag den 31. August, stand nur: „Erledigt“…
Nach einer Sportlerlaufbahn (Eishockey), in der fast völlige Abstinenz normal war („hie und da ein Bier oder ein Spritzer“) kam das Studium. Da wurde Walters Bierkonsum heftiger: „Ich war in keiner Verbindung, wo das Saufen dazugehört, ich bewegte mich in linken Kreisen, wo nächtelang diskutiert wurde – aber halt auch mit Bier“, erzählt er. Da waren noch keine Vollräusche, keine Blackouts, wohl aber die Regelmäßigkeit und die Gewöhnung an größere Mengen. Wenn jemand sagte: „Na du verträgst was!“, dann wurde das als Bewunderung aufgefasst.
Sauftouren mit den Kollegen
Nach dem Wechsel ins Berufsleben, in den Journalismus, kam das „Berufstrinken“. Die jungen Kollegen (Frauen waren noch eher eine Minderheit) fühlten sich wie Ernest Hemingway: Immer ein Glas in der Hand, immer kreativ, nächtelange Sauftouren mit den älteren Kollegen, die gute Ratschläge gaben und dazu die Pressekonferenzen, bei denen (damals, heute nicht mehr) schon am Vormittag Alkohol am Buffet stand. Man war also an manchen Tagen schon von 10:00 Uhr weg leicht im Dusel – und man schrieb so leicht…
Blackout im Urlaub
Doch zwischen den Besäufnissen gab es immer wieder längere Phasen der Trockenheit. Dann kam ein Urlaub mit der ersten Frau. Süditalien, die Costiera Amalfitana, ein Traum. „Ich musste mich belohnen für die lange Trinkpause. Mit der Frau eine Flasche Wein zum Abendessen“, denkt Walter rund 35 Jahre zurück. Dann ein paar Drinks am Abend an der Hotelbar. Einmal war eine Band da und es wurden Runden getrunken und da kam ein Blackout. „Meine Frau weinte am Morgen und sagte mir, dass ich in den Kleiderschrank gepinkelt hätte.“ Walter war entsetzt. Nie wieder viel Alkohol versprach er, nicht: KEINEN sondern nicht viel…
Saufen ohne Fahne
Dem folgte eine Phase mit heimlichen Wodka Oranges, weil das – so wussten Trinkkumpane zu berichten – kaum zu riechen war. Ideal, saufen ohne Fahne.
Walter macht es kurz: „Die Ehe ging in die Brüche. Dass ich wieder einmal zwei oder drei Monate ‚trocken‘ war, konnte sie nicht mehr retten. Wir verkauften unsere schöne große Wohnung und ich ging nach Innsbruck als Chef vom Dienst.“ In dieser Redaktion soffen fast alle, bisweilen arteten die Mittagspausen in halbe Gelage aus. Aber die Zeitung war immer pünktlich fertig. Nur ein Kollege, der Spiegeltrinker war, wurde als Problem angesehen – man trennte sich von ihm, der Rest hielt an den Trinksitten fest. Nicht alle warten Alkoholiker, viele konnten trotz großen Konsums kontrolliert trinken. Walter nicht. Als er merkte, dass seine neue Freundin mit Missfallen seine Räusche betrachtete wurde wieder auf nüchtern geschaltet. Dazu brauchte es nur eine Nacht und einen Tag Schlaf, das Hirn signalisierte: Du darfst nicht trinken, es stellte sich auch kein quälender Entzug ein. Der stellte sich nie ein.
Walter denkt zurück: „Das ging Jahr um Jahr, ich witterte einen beruflichen Aufstieg, schrieb in nüchternem Zustand Konzepte, die an oberster Stelle gelobt wurden, fiel eine Stufe nach oben und belohnte mich mit der Flasche. Zuerst gesellig, dann unmäßig, dann heimlich – bis wieder irgendwann irgendeine Alarmklingel schrillte.“
Trennung beruflich und privat
Die Trennung von der zweiten Frau, die ihm von Innsbruck nach Graz gefolgt war, kam nach einigen Jahren. Nicht wegen der Sauferei, sie hatte eine unheimliche Toleranz, es kam die Liebe zu einer anderen hinzu. Und die Trennung vom Tageszeitungsgeschäft nach 25 Jahren. Hier waren seine Exzesse auch schon aufgefallen, aber man trennte sich gütlich. Walter wollte selbständig das große Geschäft machen.
Dann, am Höhepunkt der Karriere, in Führungsposition, kamen die ersten schweren Zerwürfnisse mit der Kollegenschaft, weil diese Leadership und Leistung in Zweifel zogen. Das wurde von Walter als Intrige abgetan. Es folgten wieder Trinkerphasen, eklatante Einbrüche in der Kreativität und der Zuverlässigkeit - absolute Todsünden in seiner Branche.
Man einigte sich auf eine einvernehmliche Lösung des Vertrages mit nahezu der vollständigen Abfertigung. Eine generöse Handlung des Unternehmens.
Der Schritt in die Selbständigkeit wurde mit einem „Jungunternehmerfest“ mit Strömen von Alkohol begangen. Der kommende Abschnitt war von Nüchternheit und ansehnlichen Erfolgen begleitet. Zwei Großkunden sicherten Walter vorerst nicht nur das Überleben sondern auch einen bescheidenen Wohlstand. Das Büro samt Ausrüstung fiel zu teuer aus, Angestelltengehälter zehrten die Reserven aus der Abfertigung auf und Neukunden blieben rar - da kamen die ersten Phasen des Nicht-aufstehen-Könnens. Panik vor dem Tag, Gedanken an Selbstmord, abgeschaltete Telefone. Alles Anzeichen für eine schwere Depression.
Depression und Euphorie
Die liebende Partnerin erkannte die Alarmsignale, als er erstmals ein Sprung vom Balkon aus dem fünften Stock erwogen wurde - in betrunkenem Zustand. Bei einem freiwilligen Aufenthalt in der Landesnervenklinik Sigmund Freud in Graz (ohne Entzug, er brauchte nie professionelle Hilfe, um mit dem Saufen aufzuhören!), fand ein erstes Zusammentreffen mit dem Psychiater und späteren langjährigen Therapeuten statt. Das Leben wurde für Walter wieder alkoholfrei, der Kopf füllte sich mit Zukunftshoffnungen, es war fast wie eine Euphorie: Walter wunderte sich über das eigene Unvermögen, so viele Chancen nicht erkannt zu haben.
Aber da war das viel größere Unvermögen, diese Chancen auch zu ergreifen und zu nutzen. Die Geschäftserfolge blieben weiter aus, Existenzängste wurden erdrückend, aber man sonnte sich als „angesehener Geschäftsmann“ mit immer noch guten Beziehungen in jenen Lokalen, in denen die Frustrierten der Oberschicht verkehrten. Auf Geschäftsreisen mit Auftraggebern wurde alles verkostet, was das jeweilige Land an Alkoholika zu bieten hatte, das fiel unter Kundenbetreuung - und alle hielten es für normal.
Bis die unmissverständlichen Drohungen der Hausbank an Deutlichkeit nichts mehr missen ließen. Bis der größte Auftraggeber mit Liebesentzug in Form einer Etathalbierung drohte.
Alkohol, Tabletten, Panik
Ab da verschwisterten sich Depression und Alkohol zur unseligsten aller Allianzen. Tage wurden mit Tabletten und einer Flasche Sekt begonnen, wurden im Bett vergraben verbracht; die Abende in der Runde jener „Freunde“, die das eigene Unvermögen „gesellig“ in unzähligen Runden von Bier und Wein - nur dem besten, versteht sich - ertränkten. Nächte vor dem Fernseher, durch hundert Programme zappend, nichts aufnehmend, weiter trinkend, Panik vor dem Morgen.
Als die beiden oben genannten Termine im Kalender festgeschrieben waren, war auch die Überzeugung, sterben zu wollen, unumstößlich - ohne Alkohol, stocknüchtern wurde dieser Entschluss in Stein gemeißelt. Es würde keinen „Konkursler“ geben, der durch die Stadt marschierte, es würde keinen Mann geben, der der geliebten Frau sagen musste: „Ich bin am Ende“, es würde ein Abgang in Ehre werden. Was immer das war. Er war sich zu dieser Zeit über seinen wahren Schuldenstand nicht im Geringsten im Klaren - es handelte sich um lächerliche € 20.000! Keine Hunderttausender oder Millionen, es war eine Minipleite, die man mit der Bank, die man als Auftraggeber betreute, regeln hätte können - hätte … Niemand sollte vom Entschluss zum Suizid erfahren, es sollte kein Hilferuf sein sondern ein unumstößliches Ende.
Tränen im Bier
Das Besorgen der Waffe war für den ehemaligen Jäger kein Problem.
Eher schon der Abschied vom liebsten Menschen, denn der musste unmenschlich ausfallen: Am Sonntag einen Streit vom Zaun brechen - wohlgemerkt: immer alles ganz nüchtern - und ins 250 Kilometer entfernte Büro fahren. Unterwegs brach das Elend herein. Die letzten Worte waren unschöne gewesen, kein „ich liebe dich“. Man hatte den Therapeuten, einen treuen Wegbegleiter und große Stütze, eiskalt angelogen, sich als „stabilisiert“ geschauspielert. Daneben saß der Hund, den man nach dem Kopfschuss alleine zurücklassen musste. In der Raststätte rannen Tränen ins Bier, in viel Bier, verstohlen; eine Flasche Wodka wurde eingepackt, Zigaretten gekauft.
„Ich lasse das nächste Glas stehen…“
Nicht im Raum erschießen, nicht neben dem Hund, nahm sich Walter vor. Keine Schweinerei mit herumspritzendem Blut und Hirn verursachen. Nach mehr als einer halben Flasche Wodka war alles leicht: In den Park gehen, die Waffe genau linken Auge ansetzen und abdrücken. Letzte Eintragung am Samstag, 31. August: E-r-l-e-d-i-g-t.
Der Pensionist hat wie durch ein Wunder überlebt. Mit nur einem Auge, schweren Gehirnblutungen, wochenlangem Koma, Störung der Motorik und Verunstaltungen auf Stirn und Schädel. All das hat die Liebe seiner Frau zu ihm überlebt, obwohl kein Arzt ihr sagen konnte, ob er je wieder aufwachen würde. Sie war an seinem Bett geblieben, hatte erzählt und Lieder gesungen.
Es hat auch der Alkoholismus überlebt. Der Quartalsäufer teilte sein Leben wieder fein säuberlich in nüchterne und „lustige“ Phasen.
Bis zu einem neuerlichen Tiefpunkt. Denn der Alkohol siegt immer. Erst nach einem Unfall mit zwei Leichtverletzten fand er auf Anraten seines Psychiaters den Weg zu den Anonymen Alkoholikern. Und lernte: Sag nicht „ich trinke nie wieder“, sag': „ich lasse das nächste Glas stehen!“ Walter sagt es sich Stunde für Stunde.
Foto: Werner Schneider (1)