Der zweite Besuch bei den Anonymen Alkoholikern ist der schwierigste
„Komm‘ wieder, es wirkt!“

von Werner Schneider

Beim ersten Meeting ist alles sehr kompliziert. Zuerst werden Vorurteile als nicht der Realität entsprechend entlarvt. Die Alkoholiker „dort“ (man selbst fühlt sich immer als ganz anders) sind keine ungepflegten Dippelbrüder und –schwestern, sondern ganz adrette Leute, die sich freundlich vorstellen und sehr gesund aussehen. Auch herrscht eine ganz selbstverständliche Disziplin. Jede/r, der/die das Wort ergreift, nennt seinen /ihren Vornamen, sagt dazu „ich bin Alkoholiker“ und darf dann ausreden, ohne unterbrochen zu werden.

Als Neuling wird man mit den Erfahrungen derer vertraut gemacht, die schon länger in die Meetings gehen – manche schon Jahrzehnte. Vieles klingt so bekannt, das hat man selbst auch erlebt; und doch ist das anders, „die“ sind anders. Man kämpft selbst noch gegen den Alkohol und erfährt: „Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“ (Der erste von zwölf Schritten, die immer am Anfang verlesen werden.) Daher wird Demut empfohlen, nicht Kampf. Und man erkennt (ebenfalls aus den zwölf Schritten), dass die Anonymen Alkoholiker (AA) eine spirituelle Vereinigung sind. Wo ist da mein Platz als Agnostiker oder Atheist?
Man meint, mit einem ganzen Bündel an guten Vorsätzen gerüstet, sich selbst präsentieren zu müssen: „Ich weiß, ich darf nie wieder Alkohol trinken!“ Ein Spruch, dem von den Anwesenden widersprochen wird, denn sie haben einen oder viele Rückfälle erlebt. Das „nie wieder“ kommt daher in ihrem Wortschatz nicht vor. Es heißt: „Lass‘ das nächste Glas stehen, dann das übernächste, trinke 24 Stunden nichts.“ Daher auch der Abschiedsgruß: „Gute 24 Stunden!“
Eine Sekte?
Es wird vom Gebet gesprochen, von der höheren Macht, der man sich anvertrauen soll – bin ich da in eine Sekte geraten? Der Sektengedanke, so meint B., sei einer der abwegigsten. Bei den AA gibt es keine Bindung, nur Freiwilligkeit. Es gibt keine präferierte Religion; Christ, Moslem, Jude, Atheist – jede/r sei willkommen, es gibt keine Mitgliedsbeiträge, niemand nennt seinen vollen Namen, werde demnach nirgends erfasst, man verschweige aber auch nicht, dass es den spirituellen Hintergrund gibt.
Ich sage auch: „Ich möchte nicht mehr trinken, um meine Frau, die so lange meine Sucht ertragen hat, nicht wieder zu enttäuschen.“ Auch keine gute Idee, so wird einem zumindest beschieden. Man solle nicht die Trockenheit anstreben, um jemandem einen Gefallen zu tun. Was, wenn es in der Beziehung kriselt, dann wird fröhlich wieder gesoffen?
Namensvetter W. spricht einen scheinbar egoistischen Gedanken aus: „Ich trinke nicht, weil ICH nicht will, ich tue es für MICH, dann haben auch die Angehörigen und Freunde ganz automatisch etwas davon.“
Bin ich anders als die?
Schließlich klammert man sich als Neuling an den 8. von zwölf Schritten, in dem es heißt: „Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gut zu machen.“ Ja. Genau das will ich – aber wie kann ich nach jahrzehntelangem Alkoholmissbrauch auch nur annähernd jene wieder finden, denen ich geschadet habe, die ich beleidigt habe, denen ich ungerecht und aggressiv begegnet bin?
Wieder erfolgt die Aufklärung: Es sei nicht sehr sinnvoll mit dem achten Schritt anzufangen, wenn man die vorangegangenen noch nicht einmal verdaut, geschweige denn verinnerlicht habe.
Da rumort wieder dieses Vorurteil, ja, nun sogar die Gewissheit: „ICH bin ein anderer Alkoholiker!“ Ich glaube an keinen Gott, ich will nie wieder trinken, ich beginne mit der Wiedergutmachung sofort! Ich habe es meiner Frau versprochen, nicht mir usw. Und wo kommt man mit Demut hin? Ich habe in meinem Leben immer alles erkämpft, warum nicht auch die Nüchternheit?
Wer solche oder ähnliche Gedanken nicht abschütteln oder im stillen Kämmerlein reflektieren kann, der/die kommt nicht wieder.
Gute 24 Stunden!
Wenn man aber die Informationsbroschüren NICHT sofort wegwirft sondern liest, wenn man manchem zustimmen kann, wenn man manchem widersprechen will – dann bahnt sich ein zweiter Besuch an. Das kann der Anfang einer längeren Bindung sein. I. sagt: „In der Regel sind es sieben bis acht Meetings, bis man sich wirklich entscheidet.“ Manche kommen in diese ersten Meetings betrunken, weinen einfach nur und werden ebenso herzlich aufgenommen. Manche widersprechen am Anfang fortwährend und dürfen ausreden, so lange sie wollen.
Schließlich festigt sich im Kopf der Satz von B.: „Das ist wahrscheinlich der einzige Ort, an dem man als Alkoholiker immer willkommen ist.“ Zum Abschied hält man einander an den Händen und sagt: „Gute 24 Stunden, kommt wieder, es wirkt!“
Es wirkt tatsächlich, inzwischen mehr als acht Monate – wenn man den ersten Besuch samt Vorurteilen überwunden hat.

Infos: www.anonyme-alkoholiker.at / www.anonyme-alkoholiker.de / www.anonyme-alkoholiker.ch

Weitere Infos über englischsprachige Meetings in Europa unter www.aa-europe.net/meetings.php

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