Dr. Herbert Leherr, leitender Arzt der Alkoholikerstation in Münsterlingen, Schweiz:
„Den Patienten Mut aufs Leben machen ist sehr wichtig“

von Harald Frohnwieser

Münsterlingen, nur wenige Kilometer von der wunderschönen Stadt Konstanz entfernt. Direkt am Ufer des idyllischen Bodensees befindet sich die psychiatrische Klinik samt der Station C1, in der Menschen, die an Alkoholismus erkrankt sind, geholfen wird, von ihrer Sucht loszukommen. Im großen „Alk-Info“-Interview spricht der leitende Arzt, Dr. Herbert Leherr, ausführlich über das Programm, das seine Klinik bietet, ebenso wie über die Rolle der Selbsthilfegruppen, über Burnout und über das umstrittene Thema „kontrolliertes Trinken“.

„Alk-Info“: Herr Dr. Leherr, wie sieht das Programm, das Ihre Klinik bietet, aus?
Dr. Herbert Leherr: Wir haben schon länger nicht mehr ein Programm, das für alle Patienten gleich ist. Wir habenDr. Herbert Leherr Patienten hier, die sind nur zur Krisenintervention da, die nehmen oft an keinem Gruppengespräch teil, haben zwei stützende Gespräche mit ihrem Therapeuten und gehen nach einer Woche wieder heim. Die werden in der Zeit, in der sie bei uns sind, medizinisch gut versorgt und es wird mit ihrem Hausarzt und dem Therapeuten draußen Kontakt aufgenommen.

Und die andere Gruppe?
Das sind die, die das ganze Programm in Anspruch nehmen. Mit denen erstellen wir ein paar Tage nach ihrer Aufnahme einen Behandlungsplan, der beinhaltet, welche Therapien sie brauchen. Da gibt es zum Beispiel die sogenannte Meta-Gruppe, wo es um soziale Kompetenz geht, um den Umgang mit schwierigen Situationen, um die Scham – da schicken wir nicht alle hin, weil das für einen Teil der Patienten überhaupt kein Thema ist, obwohl es vielleicht aus therapeutischer Sicht eines wäre. Aber die sagen, dass sie das nicht interessiert und wir akzeptieren das. Sie können hineinschnuppern, aber sie müssen nicht daran teilnehmen wenn sie es nicht wollen.

Was speziell lernt man in der Meta-Gruppe?
Hier lernt man Dinge zu tun, die man sich nicht zugetraut hat oder wenn, dann nur wenn man betrunken war. Oder man lernt Dinge wieder zu entdecken die man früher mal gerne gemacht hat, aber die man verlernt oder vergessenStation C1 des Psychiatrische Klinik Münsterlingen hat. Ein Buch zu lesen, Musik zu hören – das kann alles Mögliche sein, das macht die Sache so spannend. Manche müssen auch wieder lernen, ganz normal einkaufen zu gehen oder einen Brief zu schreiben, zum Beispiel an den Sohn, zu dem es seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr gibt. Den Patienten Mut aufs leben zu machen ist sehr sichtig.

Gibt es auch etwas, wo alle hin müssen?
Zu den Gruppengesprächen schicken wir alle hin. Da gibt es zwei Gruppen. Die eine ist autonom, sie findet ohne Therapeuten statt. Da kriegen wir nicht immer mit, über was genau da besprochen wird. Aber wir wissen, dass es zum Beispiel um akute Abstürze geht und wie damit umgegangen wird und wie sie das an ihre Familiensituation erinnert, wer darf davon erfahren und wer nicht? Von da her ist diese autonome Gruppe sehr wichtig. Bei der zweiten Gruppe geht es gemeinsam mit einem Therapeuten um die verschiedensten Themen.

Was bieten Sie noch?
Bewegungstherapie mit eigens dafür geschulte Therapeuten, Yoga bieten wir zwar an, ist aber für einen großen Teil der Patienten nicht geeignet, vor allem für die Männer, ebenso das autogene Training. Bei Qigong bleiben die Leute eher hängen, da kann man mit ein paar wenigen Übungen schon relativ viel erreichen. Wichtig sind auch die Massagen, das ist für viele eine wichtige Erfahrung, weil sie körperlich berührt werden. Da bekommen sie ein Gespür dafür, was ihnen im Alltag fehlt. Die Kollegin, die die Massagen macht, macht die Patienten auch auf ihr Erscheinungsbild aufmerksam, fragt zum Beispiel, wann sie das letzte Mal genussvoll gekocht haben – und kocht dann gemeinsam etwas mit ihnen. Da bekommen die Menschen wieder ein Stück Heimat, auch wenn die Mitarbeiter sehr direkt sind. Das schätze ich so sehr an unserer Station.

Ihre Klinik liegt direkt am Ufer des Bodensees. Gehen die Patienten im Sommer schwimmen?
Ja, natürlich. Manche nehmen sich auch ein Boot um ein wenig zu rudern. Man kann auch Tennis spielen bei uns, was aber nicht sehr genutzt wird. Uns ist Selbstorganisation sehr wichtig. Die Patienten sollen sich darin üben, sich zusammen zu schließen für einen Spaziergang oder für einen Ausflug nach Konstanz, um ein Museum zu besuchen oder durch die schöne Altstadt flanieren. Denn auch das sind Übungen für die Zeit danach, da soll ja keinAusblick aus dem Patientenzimmern Vakuum entstehen, wenn sie wieder draußen sind. Denn je weniger Vakuum ich habe, desto größer sind meine Chancen, meine Kraft für etwas Sinnvolles einzusetzen.

Gibt es auch eine Kunsttherapie?
Ja, malen, töpfern – das macht vor allem für die Leute einen Sinn, die neugierig sind, etwas Neues auszuprobieren. Früher mussten alle dorthin gehen, aber nichts ist schlimmer für jemanden, der aus einem Patzen Ton nur einen unförmigen Aschenbecher zusammen kriegt und dann davon total genervt ist.

Wie sieht es im sozialen Bereich aus?
Eine Wohnung für jemanden suchen müssen wir nicht, weil es bei uns so gut wie keine Obdachlosen gibt. Man muss sich bei uns schon sehr anstrengen, um kein Dach über den Kopf zu haben. Aber wir haben einen Jobcoach, der hilft den Leuten, die arbeitslos sind, ihren Lebenslauf zu aktualisieren. Wo lohnt es sich etwas wegzulassen, und was muss unbedingt rein? Wir arbeiten auch eng mit den regionalen Arbeitsvermittlungen zusammen, damit unsere Patienten wieder Fuß fassen am Arbeitsmarkt. Und wir mieten Arbeitsplätze an, die ein paar hundert Franken die Woche kosten. Da müssen wir uns natürlich sehr gut fragen, bei welchem Patienten es sich lohnt. Aber wir wissen, wie wichtige eine Tagesstruktur ist, denn es geht ja nicht nur um die Arbeit alleine sondern auch darum, wie wichtig es ist, morgens um sieben Uhr aufzustehen und um acht bei der Arbeit zu sein.

Am Ufer vom SpitalsgeländeKommt es vor, dass jemand von seinem Ausgang betrunken zurück kommt?
Das kann schon mal passieren, aber es ist für uns kein Entlassungsgrund. Wenn aber jemand auf der Station trinkt, wenn jemand aggressiv wird, der muss uns verlassen.

Darf der wieder kommen?
Ja. Wir sagen ihm ja bei der Entlassung, dass er sich nach sieben Wochen wieder bei uns melden soll.

Zurück zur Aufnahme. Wenn jemand aufgenommen wird, aber seinen Entzug noch nicht gemacht hat, wird der trotzdem aufgenommen?
Ja, außer er hat mehr als drei Promille. In einem solchen Fall muss er zunächst in die Klinik, die gleich neben der unsrigen ist. Aber sonst kann er den Entzug bei uns machen, was den Vorteil hat, dass wir sie ins Therapieprogramm stufenweise rein nehmen können. Die gehen schon am dritten Tag in eine Gruppe oder nehmen an Aktivitäten wie zum Beispiel kochen teil.

Wie lange sind die Wartezeiten bei Ihnen?
Es kommt schon vor, dass es zwischendurch mal zwei, drei Wochen sind. Aber das sind die Ausnahmen, wir schauen drauf, dass es relativ bald geht. Ich bin irgendwie ja auch ein Hoteldirektor. Wenn die Station voll ist und jemand dringend aufgenommen werden muss, dann schaue ich, ob ein Patient, der stabil ist und der in der Region wohnt, uns stationär verlässt und nur noch als Tagespatient kommt.

Ist Burnout in Ihrer Klinik ein Thema?
Natürlich. Die Gruppe, wo darüber hinaus eine Alkoholabhängigkeit entsteht, ist größer geworden. Das ist das klassische Szenario: Jemand arbeitet viel, vernachlässigt deshalb seine Familie, es kommt ein neuer Chef, der die Arbeit nicht so würdigt, dann wird noch mehr gearbeitet und dann genehmigt man sich abends zunächst ein, zwei Gläser Whisky, bald aber fünf oder sechs. Und es gibt die andere Gruppe, für die über den zunehmenden Alkoholismus die Arbeit immer schwieriger wird, doch es ist nur ihre Leistung, die schlechter wird, nicht die Arbeit. Die gehören auch nicht unbedingt in eine Burnout-Klinik sondern zu uns.

Dr. Herbert LeherrWie stehen Sie zu Selbsthilfegruppen?
Bei uns in der Klinik werden die Anonymen Alkoholiker regelmäßig vorstellig. Aber es gab mit ihnen schon Auseinandersetzungen, wo ich sie wieder ausgeladen habe.

Warum?
Die haben unseren Patienten gesagt, dass sie Quatsch machen wegen der Medikamente, die sie einnehmen. Das können sie von mir aus draußen in den Gruppen so halten, aber nicht bei uns. Aber ich schätze ihre Lebenserfahrung sehr, auch wenn die Mitglieder bei uns etwas überaltert sind. Da warte ich noch auf einen Generationenwechsel und es wird spannend sein zu sehen, wie der aussehen wird.

Sind Selbsthilfegruppen wichtig?
Die Anonymen sind schon sehr wichtig, denn unsere Patienten können hier einen sehr wichtigen Kontakt für später knüpfen. Spätestens nach dem zweiten Meeting hat jeder einen Telefonnummer, wo er anrufen kann, wenn es ihm schlecht geht. Das ist enorm wichtig, denn den Suchtberater kann man abends nicht mehr erreichen und auch nicht am Wochenende. Das ist eine wichtige Erfahrung, dass da jemand ist, der für mich da ist und an den ich mich jederzeit wenden kann. Das schätze ich so an den Anonymen Alkoholikern. Auch den spirituellen Ansatz finde ich gut.

Wie sieht es mit dem Blauen Kreuz aus, das ja aus der Schweiz kommt?
Wir informieren unsere Patienten natürlich auch darüber. Aber es hat Geldprobleme und ist daher in unserer Klinik nicht mehr so gut vertreten wie früher, weil sie Mitarbeiter abbauen mussten. Aber auch das Blaue Kreuz ist sehr wichtig, weil es – anders als die Anonymen Alkoholiker – ein Rahmenprogramm anbietet. Daher empfehle ich den Patienten immer, dort mal vorbeizuschauen. Aber das Blaue Kreuz hat eine Wandlung bei uns in der Schweiz durchgemacht.

Welche?
Ich war vor Kurzem in einem Kurs, da ging es ums kontrollierte Trinken. Und da saß ein Führungsmitglied vom Blauen Kreuz neben mir. Ich habe ihn gefragt, was er hier macht. Und er hat erzählt, dass sie auch mit Leuten arbeiten wollen, die die Abstinenzfahne nicht unbedingt in der Hand halten.

Wie stehen Sie zum kontrollierten Trinken?
Ein Kollege von mir, ein Mediziner und Soziologe, hat sich sehr intensiv damit auseinander gesetzt. Da hat sich gezeigt, dass es das Paradigma des kontrollierten Trinken so nicht mehr gibt und das wir uns möglicherweise davon verabschieden werden müssen. Andererseits können wir in einem Beratungsgespräch nicht einfach sagen, tolleAm Ufer vom Spitalsgelände Sache, probieren Sie das mit dem kontrollierten Trinken. Denn man muss schon hinterfragen, wie häufig jemand das kontrollierte Trinken schon bereits probiert hat. Eine Schweizer Klinik hat das mit dem kontrollierten Trinken intensiv untersucht. Da hat sich gezeigt, dass viele von denen, die künftig kontrolliert trinken wollten in die Abstinenz gegangen sind, weil es einfach zu anstrengend für sie war. Aber es gibt auch Patienten, die es schaffen und nur an Weihnachten oder zu sonstigen bestimmten Anlässen trinken. Deshalb schlachten mich viele Angehörige, wenn ich ihnen sage, dass es auch funktionieren kann, dass Abstinenz nicht der einzige Weg ist. Er ist es zwar zum Großteil, aber man muss auch akzeptieren, dass sich die Zeiten geändert haben.

Inwiefern haben sie sich geändert?
Ich war vor wenigen Monaten in Istanbul und habe mir dort die Psychiatrie angeschaut. Der Chef dort hat mir erzählt, dass sie jetzt eine zweite Station für Alkoholiker aufmachen mussten, weil es immer mehr Suchtkranke gibt. Der wirtschaftliche Erfolg in der Türkei hat die Gesellschaft stark verändert, Zusammenhalt in den Familien gibt es immer seltener. Das hätte sich noch vor zehn Jahren niemand gedacht. Deshalb können wir nicht wissen, wie sich die Zeiten bei uns ändern werden. Und deshalb wissen wir leider auch nicht, wie der Stein der Weisen aussieht, noch wo er liegt.

Dr. Herbert Leherr war viele Jahre als Krankenpfleger im Suchtbereich tätig, hat dann auf dem 2. Bildungsweg die Matura gemacht und Medizin studiert. Im Alter von 38 Jahren hat er im Jahr 1992 als Unterassistent in der Klinik Münsterlingen begonnen, war zwischendurch ein Jahr in Deutschland und zwei Jahre im Kanton Zürich tätig. Seit 2011 ist er leitender Arzt für Abhängigkeitserkrankungen und Forensik in der psychiatrischen Klinik in Münsterlingen, Schweiz. Dr. Leherr ist auch Vorstandsmitglied im Forum Suchtmedizin Ostschweiz und Kommissionsmitglied „Gesundheitsförderung, Prävention und Sucht“ im Kanton Thurgau.

Psychiatrische Klinik Münsterlingen – Abhängigkeitserkrankungen - Station S1
8596 Münsterlingen, Seeblickstrasse 3
Tel.: +41 (0)71/686 41 41 und +41 (0)71/686 43 97
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Fotos: Thomas Frohnwieser (6)