Suchtexpertin Henriette Walter über Kontrolliertes Trinken:
„Ich kann jeden verstehen, der lieber abstinent lebt!“
von Harald Frohnwieser
Von manchen Suchtexperten als die neue Therapieform schlechthin gepriesen, sorgt das Kontrollierte Trinken immer wieder für Kontroversen. Namhafte Fachleute wie der Direktor der Salus-Klinik in Deutschland, Dr. Johannes Lindenmeyer, hält davon gar nichts („Kontrolliertes Trinken ist möglich, aber nicht wahrscheinlich“), ebenso wie Dr. Wilma Funk von der Klinik Wied, die sagt, dass sie keinem chronischen Alkoholiker dazu raten möchte, Kontrolliertes Trinken zu erlernen, weil es schlicht unmöglich sei. Andere wiederum wie der Nürnberger Psychologe Prof. Dr. Joachim Körkel setzen voll darauf. Auch für Prof. Dr. Henriette Walter, Psychiaterin am Wiener AKH, ist Kontrolliertes Trinken erlernbar, wenn auch nicht für jeden. „Alk-Info“ traf die gebürtige Kärntnerin zu einem ausführlichen Gespräch über eine Therapie, die niemanden kalt lässt. Eines gleich vorweg: Wer einmal körperlich vom Alkohol abhängig war, für den ist Kontrolliertes Trinken ungeeignet. Und: Diese vielgepriesene Therapieform ist vor allem eines – sehr anstrengend…
„Alk-Info“: Frau Prof. Walter, wie funktioniert Kontrolliertes Trinken?
Prof. Dr. Henriette Walter: Bevor ich Ihnen etwas über diese Therapie sage, möchte ich Ihnen erzählen, warum ich mich damit überhaupt beschäftige. Als ich vor vielen Jahren in die Therapie gegangen bin, hat es geheißen, dass es nichts anderes als die Abstinenz gibt. Aber es gibt mittlerweile Studien aus dem Tierversuch die belegen, dass Ratten, die man zunächst süchtig nach Alkohol gemacht, sie dann auf Null gesetzt und ihnen dann wieder Alkohol verabreicht hat, nach diesem „Rückfall“ viel mehr getrunken hatten als zuvor. Das gilt auch für Menschen. Warum das so ist, weiß man noch nicht genau. Aber es interessiert mich sehr, diesen Mechanismus aufzuklären. Deswegen habe ich mich mit dem sogenannten cut-down-drinking beschäftigt.
Sie bieten in Ihrer Ambulanz im Wiener AKH das Kontrollierte Trinken seit ein paar Jahren als neue Therapieform an. Wie viel Alkohol ist da erlaubt?
Wir müssen erst die richtige Dosis finden. Aber es soll nicht mehr als ein Achtel Wein pro Trinkevent sein. Man kann dann ein Sechzehntel pur trinken und den Rest aufgespritzt über den Tag verteilt oder das Achtel, aber ebenso aufgeteilt auf den ganzen Tag.
Das stelle ich mir sehr anstrengend vor?
Es stimmt, es ist sehr mühsam und irgendwie auch quälend, doch manche wollen es so, weil sie z. B. bei einer Firmenfeier oder bei einem Geburtstagsfest anstoßen wollen. Dabei ist wichtig, dass die Trinkmenge immer vom Arzt und vom Patienten gemeinsam festgelegt werden muss.
Wenn es so mühsam und quälend ist, kontrolliert zu trinken, warum bieten Sie es dann an?
Weil es mir einen niederschwelligen Zugang ermöglicht. Denn wichtig ist, dass ich jemanden erreiche, der/die ein Alkoholproblem hat. Es kommt ja auch vor, dass Patienten nach ein paar Monaten sagen, dass sie die geringe Menge an Alkohol verrückt macht und dass sie deshalb die Rechnerei nicht mehr wollen. Aber immerhin hat diese Person in dieser Zeit die Möglichkeit gehabt, darüber nachzudenken.
Gerade Alkoholiker schwindeln oft, wenn es um die von ihnen getrunkene Menge geht, spielen sie oft herunter. Wie ehrlich sind Ihre Patienten?
Bezüglich Suchtmittel ist niemand ehrlich und das erwarte ich auch gar nicht. Meine Patienten müssen ja immer Buch darüber führen, wie viel sie getrunken haben. Ich sage ihnen dann immer, dass sie die Tabelle so ausfüllen sollen, dass sie sich selber nicht in die Tasche lügen. Sie müssen mir diese Tabelle auch nicht zeigen. Oder sie zeigen mir eine geschönte, das ist mir egal. Ich sehe ja bei der nächsten Blutkontrolle ohnehin was los ist.
Kommen wir zur Therapie. Wenn Ihnen jemand sagt, dass er jeden Tag zwei Liter Wein oder eine Flasche Wodka am Tag trinkt, und dass er jetzt weniger trinken will, was sagen Sie ihm dann?
Zunächst frage ich ihn – oder sie – was er/sie gut kann. Und ich frage, was ihn/sie zu mir führt. Denn es ist ein Unterschied, ob jemand aus eigenen Stücken zu mir in die Ambulanz kommt, oder weil es der Chef oder die Partnerin oder der Partner es so wollen. Denn wenn jemand sagen wir einmal von seiner Frau geschickt wird, dann wird es nicht sehr viel nützen. Wenn jemand aber es eh auch will, dann frage ich zuerst nach dem Kompetenzgefühl, nach den Hobbys. Das kann Rad fahren sein, fotografieren oder was auch immer. So etwas sollte wieder aufgenommen werden.
Was kommt danach?
Nach dem Kompetenzbereich kommt die Medikation. Davor gibt es noch Fragen, z. B. wie groß der Wunsch nach Abstinenz ist oder wie viel man am Tag trinken will. Dann kommt die Diagnostik. Da verwenden wir die Typologie nach Lesch. Wer zum 1. Typ gehört, muss unbedingt abstinent leben, das geht nicht anders (zu Typ 1 gehören all jene, die körperlich abhängig sind und Entzugserscheinungen haben, wenn sie den Alkohol absetzen. Ihnen wird eine stützende Psychotherapie und der Besuch einer Selbsthilfegruppe empfohlen, Anm.).
Die zu Typ 2 gehören leiden unter einer starken Unsicherheit, die sie mit Alkohol bekämpfen (auch ihnen wird eine Psychotherapie und der Besuch einer Selbsthilfegruppe wie die Anonymen Alkoholiker empfohlen, Anm.).
Die zum Typ 3 gehören sind meist depressiv und sind so lange abstinent, so lange sie nicht depressiv sind. Die fürchten sich vor jedem Rückfall, halten sich aber meist ganz gut. Sie müssen aber unbedingt medikamentös eingestellt werden und brauchen eine psychotherapeutische Begleitung.
Und zu Typ 4 gehören jene, die aus desolaten Familienverhältnisse kommen, schwere Verhaltensauffälligkeiten wurden schon in der frühen Kindheit festgestellt. Die Menschen, die zu diesem Typ gehören muss man intensiv begleiten. Da nehme ich alles, was sie mir anbieten, als Hoffnungsschimmer.
Also ist das cut-down-drinking nicht für jeden geeignet.
So ist es. Wie schon gesagt, wer körperlich abhängig ist wie die, die zum Typ 1 gehören, der braucht unbedingt die Abstinenz. Aber das cut-down-drinking geht ohnehin nur mit einen Medikament, das die Trinkmenge reduziert. Ohne dem geht da gar nichts.
Wie wirkt dieses Medikament genau?
Wenn man trinkt, dann werden aus dem Alkohol Aldehyde, die erst im Schlaf abgebaut werden. Aldehyde wirken am Opiatrezeptor im Gehirn. In dem Moment, wo die Aldehyde am Opiatrezeptor andocken, wirken sie wie Heroin. Da wird eine unstillbare Gier nach weiterem Alkohol ausgelöst. Das Medikament unterbricht diesen Vorgang.
Wirkt das langfristig?
Leider wirkt es nur ein paar Monate, dann lässt die Wirkung nach. Man muss es dann einen Monat lang aussetzen, damit es wieder wirkt. Es gibt aber noch ein Problem: Die Wirkung setzt erst ein, wenn man eine ganze Tablette nimmt, aber davon wird einem am Anfang furchtbar schlecht. Daher sollte man mit einer halben anfangen, die wirkt aber nicht. Erst ab dem fünften Tag kann man dann eine ganze Tablette nehmen. Es gibt auch das Baclofen, über das es zwar viele Studien gibt, über das man aber trotzdem recht wenig weiß. Ich verschreibe es aber dann, wenn das andere Medikament zwischenzeitlich abgesetzt werden muss (siehe auch „Einfache Lösung für komplizierte Erkrankung?“).
Baclofen wirkt also beim Kontrollierten Trinken?
Da bin ich mir nicht ganz sicher. Das andere Medikament ist auf alle Fälle eindrucksvoller.
Welche Trinkmenge vereinbaren Sie mit den Patienten und wie oft soll ein Patient zu Ihnen kommen?
Sagen wir es so: Alles, was über ein Viertel Wein am Tag hinaus geht, halte ich für gefährlich. Zu mir in die Ambulanz soll man am Anfang ein Mal pro Woche oder ein Mal in 14 Tagen kommen, später dann reicht es, wenn man ein Mal im Monat kommt.
Wie lange soll man in der Therapie bleiben?
Das weiß ich nicht, das kann keiner sagen. Meine Patienten kommen im Schnitt ein bis zwei Jahre zu mir.
Ich denke, wenn jemand kontrolliert trinkt, dann hat er auch Alkohol bei sich zu Hause. Ist das nicht gefährlich?
Es ist sehr gescheit, wenn man keinen Alkohol daheim hat. Weil wenn man erst rausgehen muss, um sich Alkohol zu besorgen, gibt es eine Chance, dass sich das Hirn wieder einschaltet. Beim Gang von der Wohnzimmercouch zur Hausbar ist diese Chance sehr gering.
Das Kontrollierte Trinken ist sehr umstritten. Namhafte Fachleute sagen, dass es nur für 3 bis 5 Prozent infrage kommt.
Warum die das behaupten weiß ich nicht. Vielleicht aufgrund ihrer eigenen Einengung. Mir ist auch keine Studie bekannt, die sich auf diese wenige Prozent bezieht.
Wenn jemand, der es geschafft hat, abstinent zu bleiben, zu Ihnen kommt und Sie fragt, ob Sie ihm das Kontrollierte Trinken beibringen können, was sagen Sie ihm oder ihr?
Ich frage diese Person, ob sie sich das wirklich antun möchte. Ich würde sagen, dass man unweigerlich wieder mit Sucht reagieren wird, wenn man einmal süchtig war und jetzt wieder damit anfängt. Wenn man den Alkohol einmal aus seinem Leben draußen hat, dann ist das ja super. Und das soll so bleiben.
Fotos: Thomas Frohnwieser (3)