Die deutschen Anonymen Alkoholiker werden immer älter
Bald nur noch Altspatzen im Seniorenclub?

von Harald Frohnwieser

2015 feiern die Anonymen Alkoholiker ihr 80-jähriges Jubiläum, vor etwas mehr als 60 Jahren gab es in Deutschland die ersten Meetings. Die vom Börsenmakler Bill W. und dem Arzt Dr. Bob S. - beide waren Alkoholiker - in der Stadt Akron im US-Bundesstaat Ohio im Jahr 1935 gegründete Selbsthilfegruppe trat einen Siegeszug rund um die Welt und verhalf bisher Millionen Menschen zu einem Leben ohne Alkohol. Doch während in den USA und auch in vielen anderen Ländern der Zulauf zu den AA immer noch ungebremst ist und das Durchschnittsalter sinkt, kommt es in Deutschland zu einer Stagnation. Die Teilnehmer werden immer älter, die Jungen bleiben leider aus. Ein deutscher AA-Veteran nimmt in einem Schreiben an „Alk-Info“ zu dieser und auch zu einer anderen Problematik - soll man die Meetings-Teilnehmer „Mitglieder“ nennen oder nicht – ausführlich Stellung.

Dr. Friedrich IngwersenDr. Friedrich Ingwersen ist ärztlicher Psychotherapeut und steht als Leiter der Fachklinik für Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik in Bad Zwischenahn in Deutschland den Anonymen Alkoholikern sehr nahe. Schon im Jahr 2004 befasste er sich bei einem Deutschsprachigen Jahrestreffen der AA in Hamburg mit dem Problem der Überalterung. Dr. Ingwersen in seinem Referat: „Einige deutsche AA sorgen sich schon seit Jahren, ob sie überaltern. Nach einer stürmischen Ausbreitung der Bewegung in den sechziger und vor allem in den siebziger Jahren, die schließlich zu einem dichten Netz von starken Meetings über allen deutschsprachigen Ländern geführt hat, welches täglich vielen tausenden Betroffenen und ihren Angehörigen Stabilität, Freundschaft und Trost bietet, bleibt seit spätestens zehn Jahren merklich ein jüngerer Nachwuchs aus. Was ist los in den deutschen Meetings, oder besser gesagt, was fehlt ihnen? Warum haben in Deutschland die Anonymen Alkoholiker nicht denselben Bekanntheitsgrad unter den Jüngeren? Der jugendliche Alkoholismus nimmt in Deutschland zu, und gleichzeitig werden die Meetingsteilnehmer in Deutschland durchschnittlich immer älter. Stimmt also etwas nicht mit den deutschen AA?“
Eine Frage, die sich auch die deutschen Medien immer öfter stellen. Denn obwohl nach Angaben der Drogenbeauftragten der Bundesregierung an die 1,3 Millionen Deutschen als alkoholkrank gelten, unterziehen sich nur geschätzte zehn Prozent einer Therapie. Und nur etwa 25.000 alkoholabhängige Männer und Frauen suchen Hilfe bei den Anonymen. Heute gibt es nach AA-Angaben rund 2400 bis 2700 Gruppen in ganz Deutschland, den größten Anteil (rund 32 Prozent) machen im deutschsprachigen Raum Teilnehmer zwischen 51 und 60 Jahren aus, rund ein Drittel sind nach AA-Angaben Frauen. Mehr als 35 Prozent sind Rentner, gefolgt von Angestellten und Beamten (24 Prozent) sowie Freiberuflern (11 Prozent).
Viele Gruppen müssen schließen
Was die veröffentlichen Zahlen betrifft, scheinen die nicht ganz zu stimmen. In einer internen AA-Aussendung, die „Alk-Info“ vorliegt, steht, dass es 2013 in ganz Deutschland nur noch 2224 Gruppen gab, 500 mussten wegen zu geringer Teilnahme geschlossen werden. „Dieser ungesunde Schrumpfungsprozess ist nicht zum Stillstand gekommen. Jeder, der an der Basis daheim ist, kennt die vielen, vielen halbtoten Gruppen, die in der nächsten Zeit schließen werden“, so die die düstere Prognose von „AA-Intern“. Zudem wird in dem Papier der AA-Führung in Deutschland fehlende Transparenz vorgeworfen: „Nach der Novembersitzung 2012 des GDA (Gemeinsame Dienstkonferenz, Anm.) konnten wir lesen, dass die Zahlen (Einnahmen und Ausgaben!) halbjährlich im Intern 422 veröffentlicht werden sollen. Das ist nicht passiert! Hat die Gemeinschaft nicht ein Recht auf Information?“ Und weiter: „Dass sich bei dieser fehlenden Transparenz ein zunehmendes Misstrauen in den Gruppen gegen unsere Führung breit macht, ist nicht erstaunlich (…) Noch ist es vielleicht nicht zu spät, das Ruder herumzureißen.“
Spiritualität der Einfachheit
Auch Manfred*, der seit mehr als 40 Jahren die Meetings der AA besucht und in einer deutschen Großstadt lebt, macht sich Gedanken um die Zukunft der Selbsthilfegruppe. In einer Stellungnahme, die er an „Alk-Info“Anonyme Alkoholiker 50 plus schickte, heißt es: „Wir sollten wieder mehr deutlich machen, dass wir eine spirituelle Gemeinschaft sind. Das entspricht ja auch dem Verständnis der Alkoholkrankheit als einer körperlichen, geistigen und seelischen Erkrankung. Da können Verstand und Logik wenig helfen, es braucht etwas Umfassenderes. Wir müssen den Menschen näher bringen, was die ,Spiritualität der Einfachheit' ausmacht, weshalb wir die Anonymität pflegen und warum bei uns nur der „Netto-Mensch“, egal, welcher Gesellschaftsschicht er angehört zählt.“
Großes Auffangnetz
Eine weitere Erklärung für die sinkenden Teilnehmerzahlen sieht Manfred, so wie manche deutsche Medien auch, das große Auffangnetz für Alkoholiker, das es gibt: „In Deutschland gibt es mittlerweile eine ,Selbsthilfe-Landschaft' mit insgesamt ca. 100.000 verschiedenen Gruppen zu diversen Krankheiten – das gibt es so in keinem anderen Land der Erde. Angesichts des Mangels an ehrenamtlichen Helfern werden viele Gruppen öffentlich gefördert. Zum Vergleich: Bis Anfang der 1990er-Jahre hatte AA in Deutschland etwa 2100 Gruppen, die übrigen Sucht-Selbsthilfe-Vereine und Verbände etwa zusammen gleich viel! Heute gibt es insgesamt ca. 10.000 Suchtselbsthilfe-Gruppen für Alkoholkranke mit ca. 330 Selbsthilfe-Unterstützungs-Kontaktstellen. Die Gruppen außerhalb von AA wuchsen vor allem dank der Förderung aus öffentlichen Mitteln und anderen Quellen. Diese Gruppen unterhalten Kontaktstellen, die auch tagsüber besetzt sind - die von AA sind in der Regel nur abends ansprechbar. Außerdem haben die Gruppen außerhalb von AA seit etwa 1985 zum Teil ein umfassendes Angebot zur Vorbeugung und Nachsorge für Alkoholiker aufgebaut. Daher ist es kein Wunder, wenn weniger Betroffene den Weg zu AA finden.“
Dr. Friedrich Ingwersen macht das enge Auffangnetz für Süchtige, das es in Deutschland gibt, zum Teil dafür verantwortlich, dass immer weniger Junge den Weg zu AA finden: „Was in diesem Bereich Amerika einerseits und Europa und speziell Deutschland andererseits am meisten unterscheidet, das ist zweifellos der gute alte europäische Sozialismus, und hier wieder insbesondere der deutsche Sozialstaat. Ich glaube tatsächlich, dass dieser der Hauptfaktor dafür ist, dass zur Zeit so relativ wenig Jüngere zu AA und auch zu anderen Alkoholiker-Selbsthilfegruppen, wie Guttemplern und Blaukreuz, finden.“
Mitgliedschaft statt Zugehörigkeit
Aber es gibt noch andere Probleme innerhalb der AA. Ein Beschluss, der bei der GDK im April 2014 gefasst wurde, löst bei Manfred und vielen anderen Altspatzen nur noch ein Kopfschütteln aus: Die Teilnehmer werden nun offiziell Mitglieder genannt, obwohl bisher immer nur von einer Zugehörigkeit oder Gemeinschaft gesprochen wurde. Manfred: „Wenn das ,Gewissen von AA', die GDK, so abgestimmt hat, dann soll es so sein, aber nicht für mich, da ich mich der AA-Idee zugehörig fühle. Wie kann man AA so klein machen?“ Dazu muss man wissen, dass es bei den AA keine Mitgliedsbeiträge und keine Mitgliedslisten gibt. Niemand muss ein Aufnahmeformular ausfüllen, wenn er zum ersten Mal ein AA-Treffen besucht. Um die Anonymität zu wahren, wird auch nicht nach dem Nachnamen gefragt.
Manfred ist mit seinem Zweifel, ob man die Meetings-Teilnehmer tatsächlich Mitglieder nennen soll, nicht alleine. „Ich muss ehrlich sagen, dass mich diese geballte Ignoranz dem Thema gegenüber in ungläubiges Staunen versetzt hat! Es ist den Meisten egal, ob sie als Mitglied oder Zugehöriger bezeichnet werden. Ein wahrhafter ernüchterndes Ereignis. Im Moment hilft gegen den ersten Frust nur Gelassenheit“, ließ ein langjähriger Anonymer Alkoholiker, der überzeugt davon ist, dass eine Chance zur Abgrenzung von anderen Vereinen und Selbsthilfegruppen vertan wurde, nach der GDK Dampf ab. „Leider macht sich bei uns eine Vereinsmeierei breit, die viele abschreckt“, so Manfred, der überzeugt davon ist, dass er mit dieser Meinung nicht alleine ist.
Trotz aller Querelen steht Manfred zu den Anonymen: „Ein Nicht-Alkoholiker hat vor Jahren gesagt: Die Idee der Anonymen Alkoholiker ist ein Geschenk an die Menschen, sie ist nicht in eine bekannte Struktur, oder Organisations-Form einzuordnen.“
Tatsächlich: AA ist eine tolle Sache und wenn man sich auf dieses Programm, das schon vielen Millionen Menschen in etwas mehr als 180 Ländern dieser Erde zu einem zufriedenen trockenen Leben verholfen hat, einlässt, kann man viel erreichen. Mehr als man im betrunkenen Zustand je zu hoffen gewagt hat…

* Name von der Redaktion geändert

Infos: www.anonyme-alkoholiker.at / www.anonyme-alkoholiker.de / www.anonyme-alkoholiker.ch

Weitere Infos über englischsprachige Meetings in Europa unter www.aa-europe.net/meetings.php

Foto: Dr. Friedrich Ingwersen / Privatklinik Bad Zwischenahn (1) Grafik: Thomas Frohnwieser (1)

Zum Thema:Mein Name ist…,Komm‘ wieder, es wirkt!&My Name Is Bill W.